Arkadi Gaidar
Russische Kindheit - 1917
Russische Kindheit - 1917
Arkadi Gaidar
Impressum
Texte: © Copyright by Arkadi Gaidar
Umschlag: © Copyright by Walter Brendel
Verlag: Das historische Buch, 2022
Mail: [email protected]
Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,
Berlin
Inhalt
DIE SCHULE
1. Kapitel
Unser Arsamas war eine stille kleine Stadt mit vielen Gärten, die von windschiefen Zäunen umschlossen waren. In diesen Gärten wuchsen viele Kirschen und Äpfel, blühten Schlehdorn und rote Pfingstrosen. Teiche zogen sich durch die Stadt hindurch und an den Gärten vorbei. Schleimige Gründlinge und schlüpfrige Frösche lebten in ihrem stillen, modrigen Wasser, die besseren Fische waren längst schon gestorben. Ein kümmerliches Flüsschen, die Tescha, floss an den Hügeln entlang. Die ganze Stadt glich einem großen Kloster. Sie zählte an die dreißig Kirchen und hatte vier Behausungen für Mönche. Auch viele wundertätige Heiligenbilder gab es bei uns, aber richtige Wunder waren nur selten. Das kam vielleicht daher, dass 60 Kilometer von Arsamas entfernt die berühmte Einsiedelei von Sarow lag. Die zog alle Wunder an sich. In Sarow war schon einmal ein Blinder sehend und ein Buckliger gerade geworden, ein andermal hatte ein Lahmer gehen gelernt; so erzählten sich die Leute immer wieder. Nur vor unseren Heiligenbildern geschah nichts dieser Art.
*
Still und altväterlich war unsere kleine Stadt. Wenn an den Feiertagen, besonders aber während des Osterfestes, die Glocken aller dreißig Kirchen zu läuten begannen, dann ging ein Klingen von der Stadt aus, das bis zu zwanzig Kilometer weit ringsum in den Dörfern gut zu hören war. Ich stieg immer gern auf die Glockentürme, aber das war uns Jungen nur zu Ostern erlaubt. Lange ging es auf schmaler, düsterer Stiege nach oben. In den Mauerlöchern gurrten die Tauben. Von den vielen Windungen der Treppe drehte sich mir am Ende alles im Kopfe. Von oben war unsere ganze Stadt zu sehen und unterhalb der Stadt die Tescha mit der Ziegeninsel, die alte Mühle, das Wäldchen – und weit hinten in der Ferne tiefe Schluchten und der blaue Saum des Stadtwaldes. Mein Vater war Soldat im 12. Sibirischen Schützenregiment. Es lag an der Front bei Riga. Ich selbst ging damals in die zweite Klasse der Realschule. Meine Mutter war Krankenschwester und hatte immer viel zu tun. So war ich ganz auf mich allein gestellt. Doch einmal in der Woche musste ich ihr die Schulhefte mit den Zensuren vorzeigen. Die unterschrieb sie. Eilig schaute sich meine Mutter die Hefte an. Sah sie dann eine Vier im Zeichnen oder im Schönschreiben, wurde sie ärgerlich und schüttelte den Kopf: “Was soll das heißen?”
“Ich kann doch nichts dafür, Mutter. Was soll ich denn machen, wenn ich nun mal nicht zeichnen kann! Neulich, da hab ich ein Pferd gemalt, sagt der Lehrer: ‚Das ist kein Pferd, das sieht ja aus wie ein Schwein.‘ Das nächste Mal hab ich ihm dasselbe Bild gezeigt und hab gesagt: ‚Das ist ein Schwein.‘ Und da wird er ganz böse und sagt, das wär kein Schwein und auch kein Pferd. Der Teufel wüsste, was es sein sollte. Weißt du, Mutter, Maler werd ich bestimmt nicht.” “Ja, aber die Vier im Schönschreiben…? Gib mal dein Heft her…! Junge, wie sieht das aus! Auf jeder Seite ein Klecks! Und hier hast du eine Schabe zwischen den Seiten platt gedrückt, ekelhaft!” “Die Kleckse, die waren auf einmal da, die sind ganz von selbst gekommen, und wegen der Schabe, dafür kann ich überhaupt nichts. Ich versteh gar nicht, warum du so böse bist. Hab ich denn die Schabe reingesetzt? Die ist selbst reingekrochen, und nun soll ich schuld sein! Und Schönschreiben, was ist das schon? Ich will doch kein Schreiber werden.” “So, und was möchtest du werden?” fuhr meine Mutter mit ärgerlichem Gesicht fort und unterschrieb meine Zensuren. “Am liebsten überhaupt nicht arbeiten, wie? Und hier lese ich schon wieder, du bist über die Feuerleiter aufs Schuldach gestiegen. Wozu soll das denn gut sein? Oder willst du Schornsteinfeger werden?” “Nein, ich will kein Maler werden und kein Schreiber, auch kein Schornsteinfeger… Ich werde Matrose.” Meine Mutter schüttelte den Kopf. “Was du nicht alles sagst! Kommst du mir noch mal mit ‘ner Vier nach Hause, kriegt der Matrose was hinten drauf.”
2. Kapitel
Eines Tages ging‘s wieder einmal im Laufschritt zur Schule, nachdem ich hastig meinen Tee getrunken und meine Bücher unter den Arm genommen hatte. Unterwegs traf ich Timka Schtukin, einen kleinen, linken Jungen aus meiner Klasse. Dieser Timka Schtukin war ein schüchternes Kerlchen, der niemandem etwas zuleide tat. Ungestraft konnte man ihm eine runterhauen, er schlug nicht zurück. Er aß immer gern die Butterbrote auf, die seine Schulkameraden liegenließen, und holte ihnen dafür im Laden nebenan frische Brötchen. Kam aber unser Klassenlehrer, brachte Timka vor Schreck kein Wort heraus, obwohl er sich keiner Schuld bewusst war. Timka hatte eine ganz große Leidenschaft – die Vögel. Die Stube seines Vaters, des Küsters der Friedhofskirche, war ganz mit Käfigen vollgestellt, in denen lauter Vögel saßen. Timka kaufte und verkaufte Vögel, tauschte sie gegen andere ein oder fing sie mit Schlingen oder Fallen auf dem Friedhof. Eines Tages aber bekam er es mit seinem Vater zu tun.
Als der Kaufmann Sinjugin das Grab seiner Großmutter besuchte, sah er, dass dort jemand Hanfsamen ausgestreut hatte, um Vögel anzulocken. Auf der steinernen Grabplatte war eine Falle aufgestellt, ein Klappbügel mit einem Netz daran. Sinjugin beschwerte sich, und Timka bekam von seinem Vater eine gehörige Tracht Prügel. Vater Gennadi aber, unser Religionslehrer, erklärte in der Religionsstunde entrüstet: “Die Grabsteine sind zum Andenken an unsere lieben Entschlafenen da, nicht aber zu anderen Zwecken; und so gehört es sich nicht, auf diesen Steinen Fallen und andere unpassende Dinge aufzubauen. So etwas ist eine Sünde, ist eine Lästerung Gottes.” Und dann erzählte er uns von einigen Fällen aus der Geschichte, da die himmlischen Mächte solche Übeltaten hart bestraft hatten. Man musste es Vater Gennadi lassen: Von solchen Beispielen wusste er stets eine große Menge. Mir scheint, hätte er gewusst, dass ich eine Woche vorher ohne Erlaubnis im Kino war, ihm wäre gewiss eine Begebenheit eingefallen, da jemand für das gleiche Vergehen noch in diesem Leben die verdiente Strafe Gottes erhalten hatte… Also, Timka kam die Straße entlang und pfiff dabei wie eine Drossel. Als er mich sah, blinzelte er mir freundlich zu, schaute mich dennoch etwas misstrauisch an, als wolle er feststellen, ob ich nicht irgendetwas im Schilde führte. “Du, Timka, es ist höchste Zeit”, rief ich ihm zu, “wir kommen zu spät zur Andacht – vielleicht gerade noch zum Unterricht.” “Ob die das merken?” fragte er erschrocken, und die Angst stand ihm im Gesicht. “Klar merken die das! Na ja, Mittagessen kriegen wir keins, aber das ist auch alles…” Ich sagte das absichtlich, weil ich wusste, dass er große Angst vor jedem Tadel hatte.
Furchtsam zuckte er zusammen und rannte noch schneller. “Was kann ich denn dafür? Mein Vater war weg und hat die Kirche aufgeschlossen. Ich sollte einen Augenblick zu Hause bleiben, hat er gesagt. Und dann ist er weggeblieben, ganz lange. Und alles wegen dem Gebet. Die Mutter von Walka Spagin war gekommen, die wollte für ihn beten.” “Für Walka?” Ich riss vor Staunen den Mund auf. “Wieso? Ist der denn gestorben?” “Nein, aber den suchen sie doch.” “Wie? Suchen?” Meine Stimme zitterte. “Das ist doch Unsinn, Timka. Du, ich hau dir eine… ich weiß von gar nichts, war doch gestern nicht in der Schule, weil ich Fieber…” Timka pfiff wie eine Meise. Er war richtig froh,