Karis Ziegler
Inhaltsverzeichnis
Pan
Julisonntag, fast genau Mittag.
Plötzlich die Stille
Harte und laute Geräusche haben sich gelegt
Die Familientöne von gegenüber sind gedämpft hinter Wänden, geschlossenen Türen, vermutlich sitzt man beim Essen
Hörbar die Ruhe, darin von Zeit zu Zeit ein Vogelzwitschern und Krähen-Kakeln
Durch den blassblauen Himmel segeln, taumeln, tauchen, flattern lautlos vereinzelte Schwalben, stürzt bisweilen eine schreckhaft nahe am offenen Dachfenster vorüber
Unterhalb, in der Dachrinne - vielleicht gibt es dort ein Restchen Wasser – tschilpt und plustert ein Spatz.
Der Blick, aufschauend zum weit geöffneten Fenster hinaus, überrascht von diesem stillen Sommerhimmel, fast erschrocken vor dem verstummten Moment, und dann doch:
tiefes Einatmen von Frieden und Einverständnis.
Bilder aus langvergangenen Kindertagen tauchen gemächlich, Luftblasen gleich, an die Oberfläche des inneren Blicks:
Sommertage, unendlich in der schwebend-hellen Wärme, nie-vergehend, innehaltend, die Zeit vertäut mit den weit ins Blaue ausgeworfenen, im Sonnenlicht glitzernden Spinnenfäden wie ein großer durchsichtiger Ballon
an den Zweigen des Baums, in dessen grünschattiger Krone das leise Schwatzen und Wispern von Vögeln und Wind
an weißgrauen Samendaunen des Löwenzahns - Pusteblumen -, einzeln auf der weichen Brise segelnd,
den feucht-warm-grünen Grasgeruch und den schläfrig-süßen Duft naher Blütenfülle,
an den irrlichternden Wellen des Baches, darüber blaues Libellenblitzen
und an den im Hitzedunst verschleierten halbfernen Hängen –
Augenblick und Ewigkeit in Eins verschmolzen,
darin sorg- und fraglos aufgehoben das Kind, im Gras auf dem Rücken liegend, die Arme hinterm Kopf verschränkt, einen Fuß auf das angewinkelte andere Knie gebettet,
die Gedanken wie in einer Hängematte schaukelnd zwischen zwei Bäumen, zwei Grashalmen, zwischen Wipfel und Wolke,
den traumverlorenen Blick durch den leise sich wiegenden Scherenschnitt der Baumkrone vage ins Licht des Himmels gerichtet,
dabei mit tiefen regelmäßigen Zügen den Duft nach sonnengewärmter Erde, zeitlos-glücklicher Gegenwärtigkeit und froher Lebensneugier einatmend
Plötzlich ein Geräusch – irgendwo ein Zuruf, eine Tür schlägt zu –, und der schwebende Moment zerspringt wie eine geborstene Kristallkugel, fällt in tausend Splittern in sich zusammen -
und es gibt wieder Bewegung, Alltag -
und Entscheidungen, die zu treffen sind.
Ihr Herz schlug heftiger, eine Enge im Hals. Ja doch, eben: eine Entscheidung! die sie zuerst einmal endlich finden musste, und dann, unvermeidlich, der Anruf, der heute Nachmittag, pünktlich um sechs, mit ihrer Antwort, von ihr erwartet wurde!
Sie sah zur Uhr: Es blieb - Gott sei Dank! noch Zeit. Könnte sie sich doch ewig dehnen, diese Frist von ein paar Stunden, oder könnte sich dieser Zwang zum Entschluss auf wundersame Weise auflösen, als hätte es ihn nie gegeben... Sie stützte das Kinn in die Hände, ihr Blick sank wieder nach innen... Bilder aus einem Traum stiegen vor ihre Augen, den sie heute Morgen erst geträumt hatte, in aller Herrgottsfrühe, an den sie sich wahrscheinlich kaum mehr erinnern würde, hätte sie ihm nicht noch eine Weile nachgesonnen im Dämmergrau, bevor erste Rosatönungen die Zimmerwände kaum wahrnehmbar färbten und die frühen Vogelstimmen sie wieder in den Schlaf sangen:
Spätwinter war es, ein kalter und unwirtlich grauer Morgen, und sie, zu dünn bekleidet, hatte die seltsame Aufgabe, ein paar frühe Schneeglöckchen zu behüten, die dort zwischen schmutzigen Schneeresten standen; es hatte wieder zu schneien begonnen und schneite immer heftiger, und sie versuchte, indem sie ihre rotgefrorenen klammen Hände um die Blumen legte, sie vor dem andrängenden Schnee zu schützen. Während sie sich noch gegen das kalte, nasse Zeug stemmte, das sich immer höher gegen ihre Hände türmte, waren die Blumen unversehens zu einem ganz jungen Katzenbaby geworden, das noch kaum die Augen offen hatte und mit piepsigem Klagestimmchen und zitternden Bewegungen Schutz suchte. Sie wollte es in ihren Händen bergen und an ihrem Körper wärmen, doch schaffte sie das nicht, denn trotz seiner Winzigkeit hatte es ein solch überraschend großes Gewicht, dass sie damit einfach nicht zu Rande kommen konnte. Panische Furcht zu versagen überkam sie, denn wieder hatte sich eine traumtypische Wandlung vollzogen: statt des Katzenjungen lag nun ein menschlicher Säugling vor ihr, der auf ebenso unerklärte Weise wie die beiden anderen Lebewesen ihr Schutzbefohlener war. Wieder musste sie verzweifelnd gegen den sich höher türmenden Schnee kämpfen und das schwere Kind irgendwie vor der Kälte retten – was würde die Schwester sagen, wenn ihm etwas zustieße! Plötzlich war ihr klar, es war ja das Jüngste ihrer Schwester, und sie nahm alle Kraft zusammen; und nun war es ihr gelungen, da ist ein Zimmer, eine Wiege, und mit einem Mal ist sie es selbst, die warm zugedeckt im rosa-weiß bezogenen Kinderbett liegt und nach der eine wohlvertraute, wenn auch im Traum gesichtslose Gestalt liebend und behütend die Arme ausstreckt. Und schließlich bleibt, jenseits aller konkreter Bilder, nur noch ein lang entbehrtes allumfassendes Gefühl: sich fallen lassen zu können, geborgen in der Sicherheit, auch ohne selbst etwas für sich zu tun, könne ihr nichts geschehen.
Jetzt sehnte sie sich danach, diesem unmündigen Zustand, dieser Verantwortungslosigkeit sich ganz überlassen zu dürfen; und mit der Erinnerung an das warme, unangreifbare Gefühl vom Ende des Traumes und der Einsicht in die Unerreichbarkeit dieser Sehnsucht kam ein Schmerz sie an ähnlich dem, den sie als Kind fühlte, wenn nach fieberkranken Tagen die Mutter verkündet hatte, am nächsten Morgen könne sie wieder in die Schule gehen, und sie wusste, nun hieße es wieder früh aufstehen und sich dem Alltag mit den größer werdenden Zuständigkeiten und Anforderungen zu stellen, vorbei die Zeit der gehätschelten Sonderrolle. Oft hatten diese Momente in der noch ein wenig selbstmitleidigen Schwäche der Rekonvaleszenz