Michael Sohmen
Winfried
von Franken
Ein Investmentbanker wird zum Kreuzritter
Ein Winfried-von-Franken – Roman
E-Book Version 1.3, korrigierte Fassung Januar 2016
Erste Veröffentlichung November 2015
Das Buch ist auch erhältlich als Printausgabe
ISBN-13: 978-1519132697
Winfried
Hat man die 40 überschritten, liegen vor einem noch zwei nennenswerte Ereignisse: das Erreichen des Rentenalters und der Tod. Es war ein Tag nach Winfrieds vierzigstem Geburtstag, ein Büroalltag wie jeder andere, an dem er in Gedanken zum Berserker wurde, eine Streitaxt schwang und seinen Bildschirm zertrümmerte, danach die gesamte Büroeinrichtung in Stücke schlug und sich daran ergötzte, wie seine Kollegen die Flucht ergriffen und schreiend davonrannten. Doch er behielt seine Contenance. Wie jeden Tag. Seit mittlerweile 20 Jahren.
Wenigstens hat er dieses Alter erreicht – anders als sein früherer Chef, den zwei Jahre zuvor ein Herzinfarkt niedergestreckt hatte. Mitten in einer hitzigen Abteilungsbesprechung. Danach wurde mir diese Pappnase von Chef vorgesetzt, dieser Nichtskönner, diese aufgeblasene Luftnummer, diese komplette Fehlbesetzung … grübelte Winfried. Egal, ich muss mich konzentrieren.
Die Zahlen und Statistiken flogen über seinen Bildschirm. Als Profi musste er schnell analysieren, sofort reagieren. War dies ein Schnäppchen oder kämpfte der Bulle noch mit dem Bären? Ließen sich daraus Finanzprodukte zaubern oder war das Risiko zu hoch?
Er ließ die im Stakkato wechselnden Zahlen nicht aus den Augen. Den entscheidenden Moment durfte er nicht verpassen. Zu oft gezwinkert, einen Augenblick zu lange gezögert – er hätte die größte Chance seines Lebens unwiderruflich verpassen können.
Konzentriert beobachtete er die Zahlen auf seinem Bildschirm. Mit seinen analytischen Fähigkeiten besaß er einen siebten Sinn für das Geschäft und erkannte sofort, wenn sich etwas Vielversprechendes anbahnte. Hier sollten wir schnell zuschlagen. Diese bankrotte Firma könnten wir für'n Appel und n' Ei erwerben und - Simsalabim - Derivate entwickeln, schon sieht diese Luftnummer wie eine attraktive Alterssicherung aus. Das wird das Geschäft des Jahrhunderts!
Eine Sirene heulte auf.
Entnervtes Stöhnen aus allen Ecken folgte. »Bald drehe ich durch!«, rief ein Kollege gereizt, »schon das dritte Mal in dieser Woche, dass hier irgendein Witzbold den Feueralarm auslöst. So kann doch kein Mensch arbeiten!«
Der Abteilungsleiter erschien im Büro und verkündete mit einem Ausdruck tiefster Frustration: »Ich weiß, es stört euch genauso, aber ihr müsst jetzt alles stehen und liegen lassen.«
Das Büro leerte sich. Kurz vor dem Ausgang rief der Pförtner ihnen vorwurfsvoll zu: »Das war wieder jemand von eurer Abteilung!«
Ein Kollege platzte sofort vor Wut: »Bestimmt weißt du auch genau, WER! Und dieser WER wird dir gleich ein schönes blaues Veilchen verpassen!«
Aus Reflex hielt Winfried seinen Kollegen fest und versuchte ihn zu beruhigen. »Lass das, Waldemar! Reg dich nicht immer so auf!«
Alle sammelten sich vor dem Gebäude. Es war mit zehn Stockwerken eines der kleineren Hochhäuser des Bankenviertels, dessen verspiegelte Glasfassade so undurchsichtig war wie die Geschäfte, die dahinter abgewickelt wurden.
Die Feuerwehr erschien mit allen Einsatzwagen, ein Team in Schutzanzügen begutachtete das Gebäude. Es wurde die übliche Diagnose gestellt: Fehlalarm. Nach der offiziellen Entwarnung wurden alle zurück in ihre Büros geschickt.
Winfried saß mit einem frisch gebrühten Kaffee vor seinem Bildschirm und zerbrach sich den Kopf. Wo war ich vorhin stehengeblieben? Ich hatte irgendwelche Zahlen analysieren wollen. Das Geschäft des Jahrhunderts! Was war es? Ich hab's vergessen. Mist!
Sein treuester Begleiter, im unbeobachteten Moment entnahm er ihn seiner Aktentasche und goss etwas Schnaps in den Kaffee. Medizin, die ihm half, den Büroalltag zu überstehen. In Maßen kann es nicht schaden, dachte er. Jetzt war er einfach zu nervös, die Zahlen schienen ihn aufzufressen. Ein Schluck wirkt beruhigend. Besser, als durch den Stress einen Herzinfarkt zu bekommen.
Vom Korridor war wildes Gekreische zu hören. Frau Schmitt rannte durch den Gang, verfolgt von Dr. Weingarten, der hysterisch lachte. »Gleich habe ich dich!«, brüllte er laut, »du entkommst mir nicht, du kleine Hexe!«
Die täglichen Fangspiele mit der Teamassistentin waren seine einzige Beschäftigung, denn den promovierten Mathematiker hatte man aufgrund seiner hervorragenden Studienergebnisse eingestellt, jedoch konnte für ihn bisher keine sinnvolle Verwendung im Unternehmen gefunden werden.
»Was erzählst du eigentlich deinen Verwandten, was für eine Arbeit wir hier machen?«, fragte sein Kollege, der gerade eine Giraffe aus Papier faltete. Er stellte sie auf seinen Schreibtisch und betrachtete sie nachdenklich. »Die Wahrheit? Dass es Betrug ist, was wir hier machen?«
»Nicht so laut, Waldemar!«, entgegnete Winfried mit gedämpfter Stimme. »Wir entwickeln Derivate und bringen sie in den Handel. Das erzähle ich.«
»Derivate, die auf bankrotten Unternehmen basieren. Wir denken uns tolle Namen aus, verkaufen jedoch wertlose Schrottpapiere!«
»Kann ja sein. Damit verdienen wir eben unser Geld. Niemand beißt den Hund, der ihn füttert.«
Sein Kollege faltete erneut an seiner Papiergiraffe. Nun ähnelte sie einem Hund. Er betrachtete sein Werk und nickte.
Nachmittags wurde Winfried ins Büro seines Chefs bestellt. Herr Silowski eröffnete ihm: »Vom Vorstand wurde ich beauftragt, Mitarbeitergespräche zu führen. Ich habe mich in meinem Studium der Betriebswirtschaftslehre auf Mitarbeiterführung spezialisiert. Kommen wir gleich zur Sache, Herr Kunze!« Er klappte sein Laptop auf und öffnete eine Text-Datei. »Dies ist ein vorgefertigter Text. Darin befinden sich freie Stellen, die wir gemeinsam ausfüllen müssen. Ich werde Sätze beginnen, Sie werden sie beenden. Ganz einfach! Legen wir los«, begann er die Sitzung. »Mit meiner Arbeit bin ich … Ihre Antwort?«
»Naja, ich bin durchaus zufrieden«, antwortete Winfried, »und meine Arbeit füllt mich vollkommen aus, aber …«
»Ok«, schnitt der Chef ihm das Wort ab, »habe ich notiert. Nächster Punkt: Verbessern könnte man …«
An irgendwas erinnert er mich doch. Mit seinen vorstehenden Augen und seinem spitzen Mund, dachte Winfried, nur an was? Und antwortete:
»An der Planung könnte man etwas verbessern. Zum Beispiel …«
»Sehr gut!«, unterbrach sein Chef, tippte sofort und klickte auf die nächste Textmarke. »Der nächste Punkt, den wir gemeinsam erarbeiten und ausfüllen müssen: Folgendes habe ich an Kritik oder Verbesserungsmöglichkeiten vorzubringen …« Er nahm seine Brille ab, um sie zu reinigen und blickte Winfried an, der dachte: Sein Gesicht hat Ähnlichkeit mit einem Insekt!
»Ich hätte ein paar Ideen«, setzte er zu einer Antwort an, »man könnte …«
»Sehr gut«, fiel ihm sein Chef erneut ins Wort, »ein paar Ideen. Super, das bringt uns sicherlich weiter«. Schnell setzte er seine Brille auf, tippte die Antwort ein und fuhr fort: »Die vorletzte Frage. Wenn sie einen Wunsch frei hätten: bei meiner weiteren Mitarbeit im Unternehmen würde ich gerne …«
»Nun, man könnte so weitermachen wie bisher, aber man könnte auch …«
»Also: ›weiter so‹. Super, ihre Antworten! Es folgt die letzte Frage, danach sind wir durch.« Herr Silowski las ab: »Das Verhältnis zum Chef würde ich beschreiben als … Hahaha! Das ist eine Fangfrage, nicht?«
Vor Winfrieds geistigem Auge begann ein Film zu laufen: wie er den Kopf seines Chefs packte, mit Wucht auf die Tischkante schlug, dies wiederholte, immer und immer wieder, bis der letzte Zahn aus dessen Oberkiefer herausgeschlagen war. Geistig abwesend und in brutalste Visionen vertieft starrte er an die Wand.
»Keine