Thomas Tippner
Der Bruder
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Der Bruder
von Thomas Tippner
Irgendjemand hat mal gesagt: „Aller Anfang ist schwer“, und damit bei Robert Schweiger den Nagel auf den Kopf getroffen.
Nicht nur, dass ihm der neue Job, den er in dem Altersheim „Philipps Residenz“ angetreten hatte, besonders schwer im Magen lag, auch deswegen, weil es für ihn mal wieder der Beginn eines neuen Lebensabschnittes war.
Robert, der sich sein blau-weiß gestreiften Oberteil, das er trug, glatt zog und mit einem schüchternen Lächeln zu seiner Kollegin, Marion Adler, schaute, seufzte innerlich.
Wenn er ehrlich zu sich selbst war, und das versuchte er eigentlich immer, hatte er sich das Leben hier in Hamburg ganz anders vorgestellt. Er war hierhergekommen, um Karriere zu machen. Seinen erlernten Beruf aufzugeben und sich in der Kunst zu verewigen.
Weder das eine noch das andere war ihm gelungen.
Weder hatte er es geschafft, von seinen verfassten Texten einen Verlag zu überzeugen, sie zu veröffentlichen, noch war es ihm gelungen, aus den Mühlen der Altenpflege herauszutreten. Dabei hatte alles so verheißungsvoll angefangen. Damals, vor zwei Jahren, als er Katharina auf der Leipziger Buchmesse kennenlernte. Er war an den Stand eines kleinen Verlags mit interessanten Titeln getreten. Titel, die sich um das Leben an sich drehten und den Menschen und nicht das Abenteuer in den Mittelpunkt stellten.
Und hinter dem Verkaufstisch hatte Katharina gestanden. Leicht und locker gekleidet mit ihrer weißen Bluse, dem bis zu den Knien reichendem Faltenrock und der rotgepunkteten, schwarz abgesetzten Strumpfhose.
Noch heute, wo alles den Bach heruntergegangen war, musste er an das Bild denken, das sie ihm damals geboten hatte.
Wie sie dastand, das perlmuttweiße Lächeln, den Kopf ein wenig schief gelegt, willens, mit ihm ins Gespräch zu kommen.
Robert, der gar nicht vorgehabt hatte, mit einem Verlagsmitarbeiter zu sprechen und ihm zu erzählen, was er in seiner Freizeit so tat, hatte seine Grundsätze schneller über Bord geworfen: wie ein stolzer Gefangener, der dem Ruf der Freiheit nicht widerstehen konnte.
Er war zu ihr hingegangen, hatte sie angeschaut und sich vorgestellt, wie sie wohl unter der Bluse, dem Rock und der Strumpfhose aussehen würde.
Verrückt.
So war er gar nicht.
Katharina aber hatte das gewisse Etwas gehabt. Einen Glanz, eine Ausstrahlung, eine eigene Dynamik annehmende Präsenz, wie Robert ihr nie zuvor begegnet war. Von der er immer geglaubt hatte, dass sie nur in kitschigen Romanen und an Langeweile grenzenden Filmen vorkam.
Alles Bullshit!
Katharina hatte sein Weltbild völlig auf den Kopf gestellt. Sie hatte ihn in ihren Bann geschlagen und ihn mit einer solchen Leichtigkeit um den Finger gewickelt, dass es ihm im Nachhinein unangenehm war, so schnell verzaubert worden zu sein.
Was aber hätte er dagegen tun können?
Nichts.
Das wusste er heute ebenso, wie er es damals gewusst hatte. Nur mit dem Unterschied, dass sein heutiges Ich aus den Konsequenzen von einst lernen musste, während er vor zwei Jahren noch geglaubt hatte, dass er jetzt mit allem beginnen konnte, was er sich jemals erträumt hatte.
„Wollen wir?“, riss Monika ihn aus seinen Gedanken. Robert, der sich dabei erwischte, noch immer über den Kasack zu streichen, hob den Kopf und nickte.
„Klar.“
„Übergabezettel hast du ja“, lächelte ihn seine Kollegin an, die mit ihrer modernen Kurzhaarfrisur am natürlichen Look eindeutig vorbei geschrammt war. Eine Frau wie Monika konnte kurze Haare nicht tragen. Es ließ sie hart und unnachgiebig wirken, obwohl Robert sich sicher war, dass sie alles andere als kompromisslos und hartherzig war.
Das sagt mir ihr Lächeln, erklärte er sich selbst und war der festen Überzeugung, dass er tatsächlich im Lächeln der Menschen lesen konnte, so wie andere in einem Buch. Er hatte schon immer den Leuten ins Gesicht geschaut, anstatt auf ihre Worte zu hören.
In den Gesichtern, da war er sich sicher, konnte man am meisten über die Menschen erfahren.
Deswegen beschreibe ich Gesichter in meinen Geschichten auch immer so ausführlich, dachte er wieder bei sich und merkte schließlich, dass Monika noch immer erwartungsvoll zu ihm schaute, damit er ihr eine Antwort auf ihre Frage gab.
„Ja, hab ich“, sagte er, hob den Zettel und wartete darauf, dass seine Kollegin sich daran machte, das Stationszimmer zu verlassen, das die anderen Kollegen längst verlassen hatten.
Weil ihnen die Zeit im Nacken sitzt, kam ihn der Gedanke, der ihm Magenschmerzen bereitete. Zu wenig Leute, zu viele Bewohner. Eine Menge Wünsche, die erfüllt werden müssen und keine Ahnung, wie man seine Aufgaben in acht Stunden erledigen soll.
Deswegen war er aus der Pflege geflüchtet.
Genau deswegen.
Man hatte nur das Gefühl, als würde man vorwärts kommen.
In Wirklichkeit aber lief man jeden Tag, jede Stunde, jede Minute nur in einem Hamsterrad und kam keinen Millimeter vorwärts.
„Wie weit hat man dich über den Ablauf informiert, als du hier hospitiert hast?“, wollte Monika wissen.
„Ganz gut, glaube ich“, antwortete er, der nicht wusste, worauf sie hinaus wollte.
Will sie mich schon alleine losschicken? Das darf sie nicht. Ich meine, hey, ich habe meinen ersten Tag. Das ist ein fremdes Haus. Hier kenne ich mich nicht aus.
„Dann weißt du ja, wie wir vorgehen.“
„Vorgehen?“
Monika lächelte wieder. Das Lächeln, das ihren wahren Charakter ausstrahlte. Nicht ihre hässliche Frisur, die ihr schmales Gesicht noch dürrer erscheinen ließ und ihre für den kleinen Mund zu großen Zähne hervorhob.
Das