Wilhelm Heinse
Die Kirschen. Eine erotische Erzählung
Textrevision und Nachwort von Hansjürgen Blinn
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Inhaltsverzeichnis
Heinses Anmerkungen zu „Die Kirschen“ (1773)
Vorbericht
Den vorigen Sommer erfuhr ich, während meines Aufenthaltes zu Berlin, die hier erzählte Begebenheit. Sie gefiel mir so sehr, dass ich meine Rückreise mit der Verfertigung einer Erzählung davon zu einem Spaziergange machte.
Wichtigere Geschäfte nötigten mich, bei meiner Zurückkunft, diese Kleinigkeit wegzuwerfen, und zu vergessen.
Gestern sucht’ ich in meinem Archiv eine verlegte Urkunde, und bei dieser Gelegenheit schien mir die Handlung des preußischen Generals beim ersten Blick, im ersten Aufwallen des Herzens, als jeder Sieg des Alexanders und Scipio über die Leidenschaften. Vielleicht bleiben die Helden der Griechen und Römer oft nur deswegen größer, als die neuern, weil diese keine Geschichtsschreiber haben, wie jene.
Alexander scheint den Vorzug, auch was die Siege über das Herz betrifft, vor allen Helden zu verdienen; wovon viele Beispiele bei seinem besten Biographen, beim Plutarch zu finden sind: (der aber noch die Geschichte des Apelles mit der Kampaspe vergessen hat, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, die Hauptsächlich hieher gehört.) Ich will diesem Gott seinen Rum nicht streitig machen; aber was den Sieg über die Liebe anbelangt, so wurd’ ihm dieser immer zu leicht, als dass ich ihm den Vorzug vor meinem General, der ein männlicher Alcibiades ist, zugestehen könnte; da nie in seinem Herzen auch nur ein Tropfen von heftigem Verlangen nach der Umarmung einer Aspasia war geboren worden. Man kann ihn an die Spitze der Helden setzen, die Amor nicht bezwungen; aber nicht an die Spitze derer, die den Amor bezwungen haben; und ich halt’ es für keinen Ruhm, von Amor nicht bezwungen zu werden, sondern für einen Mangel der Charitinnengottheit im Herzen, und für den Verlust der größten Glückseligkeit; da die Liebe, nach dem Geständnis aller lebendigen Wesen, das süßeste Leben ist im ganzen Leben.
Ich übersende diese Erzählung sogleich nach Berlin in den Druck, weil ich befürchte, dass sie sonst verloren gehn möchte; da schon verschiedene dieser Kleinigkeiten mir unter den Händen entschlüpft sind. Wir Deutschen haben so wenig Erzählungen, dass es immer ein Verlust ist, es mag eine gute oder eine mittelmäßige verloren gehen. Ich bitte, mir meine naive Offenherzigkeit zu verzeihen.
Diese Art von Geschichten halt’ ich für eine der nützlichsten. Der Geist hat verschiedene Krankheiten. Bisweilen wandeln ihn so beißige Launen an, dass ihm alles gleichgültig oder ärgerlich ist, was er vorher mit Entzücken umarmte – dass er sich, wie eine gespannte Feder nach Ruhe strebt, nach seinem vorigen Nichtsein sehnet. Bei gewissen Gelegenheiten presst uns eine so klemmende Bangigkeit das Herz zusammen, als wenn wir, wie ein Schiffbrüchiger, der Tonnen Goldes einbüßte, mitten im wütenden Meere, von allen Wesen verlassen, schwämmen – oder uns schwindelt das Leben in allen Pulsen, wie einem Schieferdecker, der auf der Spitze eines Turmes vergebens sich noch an das herabgeriss’ne Seil klammert.
Nur ein Mal in meinem Leben hab’ ich eine Art dieser Krankheit erfahren; aber genug empfinden können, wie sie martert – Damals überfiel sie mich, da ich dich, Bacchidion, verlassen musste, da mir die halbe Seele von der andern Hälfte gerissen wurde. Wer einen Freund – einen Freund verloren hat, oder eine Geliebte, und nicht versteht, was ich sage, der kann ohne Sünde den Tag seiner Geburt verfluchen.
Die erstere Art dieser Krankheit soll Damen und Fürsten öfterer anfallen, als uns Diogenesse, wie mir Götter und Göttinnen unter ihnen mit Zähren geklagt haben. Meistenteils folgt dieser Zustand, wenn der Geist zu viel Wollust genossen hat; er ist ein Ekel vor allen Seelenspeisen.
Für alle Krankheiten des Geistes gibt es keine bessere Mittel als die Erzählungen des la Fontaine, Boccaz, Grecourt, Hamilton, Crebillon, Voltaire, Dorat, Fielding, Cervantes und einiger andern Hypokratesse des Geistes, die man deswegen billig unter die Wohltäter des menschlichen Geschlechts zählen muss.
Uns Deutschen fehlen Gedichte dieser Art fast gänzlich; nur wenige besitzen wir; und von diesen wenigen scheinen einige nur für Griechen geschrieben zu sein; und leider! gibt es nicht viel Griechen in Deutschland. Ich will deswegen künftigen Frühling einige müßige Tage dazu anwenden, die besten für unsere Grazien aus den deutschen Dichtern zusammen zu suchen und sie herausgeben; und vielleicht noch ein Bändchen Übersetzungen von den schönsten Stücken der Novellieri der Italiener besorgen. Geschrieben den 22. März 1773.
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