Johanna Vedral
Das faulige Herz
Love Stories
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Inhaltsverzeichnis
Die Milch der frommen Denkungsart
Der seidene Tony
DAS FAULIGE HERZ
Love Stories
Johanna Vedral
Auf der Zugfahrt von Wien nach Graz ist Sonja ganz mulmig zumute. Sie kann sich nicht auf „Bin nur mal Zigaretten holen“ konzentrieren, obwohl sie sich schon sehr auf das Buch gefreut hat. Aber schon nach ein paar Seiten weiß sie nicht mehr, was sie gelesen hat. Sie hat Bauchweh. Ob das wirklich eine gute Idee ist, einen Mann zu treffen, den sie eigentlich gar nicht kennt? Wer sagt denn, dass Tony noch irgendetwas mit dem 17jährigen Sänger der „Lovers“ zu tun hat, dessen Coverversion von „Tunnel of Love“ sie sofort im Ohr hat, wenn sie sich an damals erinnert? Dass er noch genauso unbehaart ist wie damals, dessen hat er sie in seinen anzüglichen Chatnachrichten versichert und das auch mit ästhetischen Großaufnahmen belegt. Seiner Frau sei das egal, aber ihr nicht, denn sie verstehe ihn ja…
Sie hat schlecht geschlafen. Im Traum hat sie Tony im Bahnhofscafe in Graz getroffen, und er war nicht schlank und seidig, sondern faltig und verlebt, hatte einen Bauch und Mundgeruch. Er wollte sie küssen, doch sie wollte nicht. Sie täuschte einen dringenden Anruf vor und stieg in den nächsten Zug zurück nach Wien.
Als der Zug über den Semmering zockelt, würde sie am liebsten wieder aussteigen. Doch da kommt nach dem Funkloch eine Nachricht von Tony herein: „In einer Stunde bist du da! Lass uns doch auf den Schlossberg gehen. Erinnerst du dich?“
Natürlich erinnert sie sich. Am Schlossberg haben sie sich das erste Mal geküsst, als sie mit der Schule einen Ausflug machten. Sie erinnert sich noch an den Geruch seines Pullovers und an seine weichen Wangen, auf denen ein zarter Bartflaum spross, weich und seidig. Und dann haben sie sich hinter einem Busch versteckt, um sich ohne die Argusaugen ihres stets leicht angeheiterten Klassenvorstands auch unterhalb der Pullover streicheln zu können.
Sie glaubt, Franz ahnt etwas. Seit sie mit Tony ausgemacht hat, dass sie sich in Graz treffen, hat Franz sie nach Ewigkeiten mal wieder zum Essen eingeladen. Sie waren beim Inder, wo sie sich in ihrer Studentenzeit öfter getroffen haben, und nachher hat Franz sich nicht mit seinem Laptop aufs Sofa gelegt wie sonst, sondern sie geküsst. Es war eindeutig, dass er Sex von ihr wollte, nach Monaten, in denen nichts gelaufen ist.
Dass sie übers Wochenende nach Graz fährt, weil dort angeblich eine Englischlehrerkonferenz stattfindet, hat er wohl am Rande mitbekommen. Da Tascha zu der Zeit auf Schullandwoche in Salzburg ist, tangiert ihn das nur peripher. Er ist sowieso in Liechtenstein, wo er die Gründung seiner dritten Firma in die Wege leitet. Glaubt Sonja. Oder ist er in London? Ist ihr eigentlich egal. Dass sie ihm auch nur mit halbem Ohr zuhört wie er ihr, ist eigentlich traurig. Dass sie einfach so plant, Tony zu treffen und, wenn es passt, ihren Mann auch mit Tony zu betrügen, ist auch traurig. Oder ist das normal nach 13 Jahren Ehe? Franz meint ja immer, dass er von offenen Beziehungen nichts hält. Dass er sich sofort scheiden lassen würde, wenn da ein anderer Mann ins Spiel käme. Und dann klopft er ihr jovial auf den Schenkel und scherzt, er hätte sie ja schon erobert, er müsse sich auch nicht mehr um sie bemühen, schließlich wäre sie ihm vertraglich zugesichert, haha.
Auf jeden Fall ist er seit ein paar Tagen so nett wie schon lange nicht mehr und so aufmerksam, dass es ihr schon unheimlich ist. Er hat ihr von einem seiner Liechtensteiner Spezis eine Theaterkarte mitgebracht, für „A Midsummernight Dream“, nett von ihm, obwohl er wissen müsste, dass sie das Stück oft genug gesehen hat, immerhin war er mit ihr im gleichen Diplomandenseminar. Und er hat diese Woche schon zweimal „auf seine ehelichen Rechte gepocht“, was für sie leider zwei schlaflose Nächte bedeutete, weil sie sein Schnarchen im Bett gar nicht mehr gewöhnt ist, schläft er doch die meiste Zeit am Sofa.
Auf was für eine Schnapsidee hat sie sich da nur eingelassen! Sie ist 45, und das sieht man auch. Ihr fehlen drei Zähne, weil die Implantate noch nicht fertig sind, auf ihrem Bauch sind Schwangerschaftsstreifen und sicher sind im grellen Mittagslicht alle Falten gestochen scharf herausgemeißelt. O my god! Was ist sie nur für eine Närrin. Und auch wenn nichts passiert, wenn sie nur einen Kaffee trinken und eine Runde spazieren gehen, es reicht, wenn sie jemand sieht, der Franz kennt, Franz kennt Gott und die Welt, und wenn Franz erfährt, dass sie einen anderen Mann getroffen hat und ihn angelogen hat, dann hackt er einfach ihr Handy und liest die Chat-Schweinereien und lässt sich sofort von ihr scheiden und nimmt ihr Tascha weg und sie muss ausziehen und in einer grindigen Einzimmerwohnung hausen, weil sie so viele Alimente zahlen muss, dass sie sich nicht mal mehr die Butter aufs Brot leisten kann…
Aber sie will Tony treffen. Seit er ihr vor zwei Monaten dieses Mail geschrieben hat, will sie es wissen.
Es ist Donnerstag, als in der Yogastunde auf einmal ein Mann auftaucht. Sofort ist eine andere Energie im Raum, ein Geschnatter und Posieren und Dekollete-Richten, widerlich. Dabei ist er nicht einmal besonders gutaussehend und sicher schon weit über 50, und Sonja hat ihn im Verdacht, dass er nur deshalb in die offene Yogastunde gekommen ist, weil er gehört hat, hier könnte man knackige Frauen um die 40 pflücken.
Sonja hat sich vor fünf Jahren dem Yoga zugewandt. Yoga ist verlässlicher als Sex, eine Yogamatte ist immer bei der Hand. Sonjas Mann weniger. Franz lebt in seiner Computerwelt. Heute ist er ausnahmsweise um 21 Uhr schon zuhause, sie sieht schon beim Heimkommen das Flackern des Fernsehlichts im dunklen Garten. Wenn Franz und Sonja noch miteinander reden würden, könnten sie sich jetzt bei einem Glas Wein über den notgeilen Yoga-Mann lustig machen. Sonja drückt Franz das obligatorische trockene Bussi auf die Lippen. Franz starrt auf seinen Laptop. Im Fernsehen schreit eine Prolo-Tussi ihren Mann an, weil sie ihn mit einer anderen in flagranti erwischt hat.
Es ist mal wieder einer dieser Abende, an denen Tascha bei Sonjas Mutter schläft. Franz und Sonja haben früher an solchen Abenden romantische Abendessen, Ausflüge in die Therme oder auch mal einen Besuch im Theater genossen. Sonja kann sich gar nicht mehr erinnern, wann das aufgehört hat. Jetzt sind kinderfreie Abende Abende wie alle anderen auch: Franz ist in Skype-Konferenzen oder mit dem Aufarbeiten seiner nie endenwollenden Mails beschäftigt und telefoniert