Herr Thönder
EinBlick
Copyright: © 2015 Herr Thönder
published by: epubli GmbH, Berlin
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ISBN 978-3-7375-3443-7
Inhalt
1
Benjamin
Man sagt: „Wenn Du im Traum stirbst, stirbst Du wirklich!“ Ich glaube das. Meine Träume machen mir Angst ...
Mein Name ist Benjamin. Die Abkürzung „Ben“ mag ich nicht, weil das ein Allerweltsname geworden ist. Ich bin 22 Jahre alt, habe mittelblondes Haar. Ich bin relativ schlank, weil ich viel Rad fahre, aber ich habe auch nichts gegen ein deftiges Essen hier und da. Früher habe ich mal Fußball gespielt, aber das wurde mir zu doof. Eigentlich wurde es mir zu anstrengend, weil ich so gut war, dass sie mich in eine überregionale Auswahl stecken wollten. Nichts für mich. Ich bin lieber ruhig, normal. Durchschnitt. Nichts Besonderes.
Und ich komme aus Frühlingsfelde. Eine echte Kleinstadt: ein Rathaus, ein Bäcker, ein Metzger, zwei Kirchen, drei Kneipen. Ein Kindergarten, eine Grundschule, eine Gesamtschule. Durchschnitt. Nichts Besonderes. Wie ich. Wo Frühlingsfelde liegt? Schwer zu sagen, noch schwerer zu beschreiben. Irgendwo und nirgendwo. Mitten im Nichts. Dort, wo niemand leben will, weil es „zu weit ab vom Schuss“ ist. Es ist meine Heimat. Hier fühle ich mich zu Hause.
Hier habe ich meine Kindheit verbracht. Mit aufgeschlagenen Knien und ausgeschlagenen Zähnen. Mit Pickeln und Knutschflecken. Mit Hunger und Durst, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Hier habe ich mein Abitur gemacht. Nichts Herausragendes, aber genug.
Mir wurde immer gesagt: „Benjamin, irgendwann gehst Du in die weite Welt und machst uns alle hier berühmt!“ Auch wenn ich das als Kind noch ganz aufregend fand, hat sich der Glanz dieser Aussicht doch relativ schnell abgenutzt. Mir war immer klar, dass ich für eine Ausbildung aus Frühlingsfelde weg müsste. Aber ich wollte immer wieder zurück!
Seit gut einem Jahr studiere ich in der Stadt. Ich nenne sie „die Stadt“, weil mich nichts mit ihr verbindet. Dort ist es kalt und anonym. Die Menschen leben vor sich hin, keiner kennt den anderen. Warum sollte eine solche Stadt einen Namen verdienen? In Frühlingsfelde interessiert es letztlich keinen, wo ich studiere. Alles, was mehr Einwohner hat als ein mittelmäßiges Fußballstadion, wird sowieso sehr kritisch beäugt. Dieses Gefühl konnte ich selber auch niemals endgültig ablegen, sodass es für mich stets das Größte ist, nach Hause zu kommen. „Zuhause“, das heißt für mich Frühlingsfelde!
Meine Semesterferien verbringe ich immer komplett in Frühlingsfelde. Im Haus meiner Eltern. Ich kann nicht sagen „zu Hause bei meinen Eltern“, denn das wäre übertrieben. Meine Eltern sind nämlich so gut wie nie zu Hause. Beide sind richtige Workaholics, sodass ein normaler Beruf einfach nicht genug wäre. Als Ärztin und Anwalt setzen sie sich vor allem für Menschen aus Krisengebieten ein. Das bedeutet, dass sie sich häufig auch in diese Regionen begeben, um zu helfen. Für mich bleiben viele Postkarten und ein Haus für mich alleine.
Meine Eltern haben es mir aber finanziell nie an etwas mangeln lassen. Ich hatte immer genug zu essen und anzuziehen. Das Haus war immer Anlaufpunkt für meine Freunde, weil wir immer machen durften, was wir wollten. Meist waren wir ja eh alleine. Somit habe ich in diesem Haus auch meinen ersten Rausch erlebt. Ich müsste sagen: meine ersten Räusche, denn wir haben mehr als nur Alkohol ausprobiert. Meine Eltern haben das sogar meistens nachher irgendwie mitbekommen. Aber ihr Standardsatz war immer: „… auf der Welt gibt es so viel Schlimmeres!“
Meine Tage hier sind meist auch nichts Besonderes. Meine früheren Freunde sind nicht in Frühlingsfelde. Entweder arbeiten sie weit weg, weil es hier keine Jobs gibt, oder sie sind auch zum Studium weggegangen, kommen aber nicht mehr zurück. Frühlingsfelde ist für den Durchschnittsmenschen, der sich nicht für einen solchen hält, einfach unattraktiv.
Für mich ist es Heimat, Ruhe und Glück.
Deshalb ist es auch umso schlimmer für mich, dass die Träume hier begannen ...
2
Jan
„Schatz? Ich bin's. ... Ja ... Es tut mir Leid, aber es wird später ... Ich weiß ... Es tut mir wirklich leid, aber ... ja, ein Notfall kommt ... ja ... ja ... Schatz, lass mich ... nein, aber ... Schatz ... der Hubschrauber!“
Dr. Jan Ratzont beendete das Telefonat und schob sein Handy in die Hosentasche. Immer das Gleiche, dabei war er nun mal Notfallmediziner. Natürlich hatte auch er sich die Zeit, nachdem die Kinder aus dem Haus waren, anders vorgestellt. Aber er hatte halt einen Beruf gewählt, in dem er völlig aufging. Menschen in Lebensgefahr zu helfen, sie manchmal sogar wieder ins Leben zu holen, erfüllte ihn mit Stolz. Und er war gut in seinem Beruf. Es war ein echter Beruf, nicht bloß ein Job.
Jan war Anfang fünfzig. Zum Glück hielt er sich durch reichlich Sport so fit, dass man ihm das nicht sofort ansehen konnte. Seine Figur konnte man als „sportlich“ bezeichnen. Und auch seine Gene waren ihm wohlgesonnen, sodass er noch keine Brille hatte. Auch nicht zum Lesen, worauf er besonders stolz war, wenn er sich unter seinen Freunden und Kollegen so umsah. Seine Haare bekamen zwar langsam einen silbrigen Schimmer, aber das machte ihn eher noch attraktiver.
Marie, seine Frau, sah seinen Beruf etwas kritischer. Lange hatte er hart und viel gearbeitet, sodass er seiner Familie ein unbeschwertes Leben ermöglichen konnte. Wie oft hatte er Marie mit den Worten „wenn die Kinder erst aus dem Haus sind, wird es anders“ beruhigt? Wie oft hatten sie Pläne für die Zeit „nach 50“ geschmiedet? Wie viele Reisen hatten sie im Kopf schon