Erik zweifelte keinen Moment daran, dass Herr Terres von dem Geld sprach, das er sich bei dem Kredithai hatte ausleihen müssen.
„Außerdem biete ich Ihnen eine Unterkunft an, entgeltfrei versteht sich. Ihre Tochter kann die hiesige Privatschule besuchen, auch dafür müssen Sie nichts aufwenden! Sie sehen, ich bin sehr daran interessiert, Sie als neuen Mitarbeiter zu gewinnen. Ihre Arbeitskraft bedeutet mir viel und ich bin bereit, die genannten Kosten dauerhaft und ohne Forderung einer Rückzahlung zu übernehmen. Ihr Leben würde sich von Grund auf ändern, Herr Hellar!“, betonte Alarik und wartete dann auf eine Antwort.
Da Erik sich nicht im Stande fühlte, dem nachzukommen, schwieg er. Unterschiedlichste Gedanken und Gefühle jagten durch seinen Kopf. Am Rande nahm Erik wahr, dass Alarik einige Male dazu ansetzte, etwas zu sagen.
„Hören Sie Erik, ich weiß auch, welche Tragödie Ihrer Familie widerfahren ist“, verlegen hüstelte er. „Wir beobachten die Tätigkeiten der Auserwählten, einer Gruppierung der Unsrigen, die es sich zum Ziel gemacht hat, die gewöhnlichen Menschen zu unterwerfen. Damit versuchen wir sicherzustellen, dass ihre terroristischen Akte unsere Kolonie nicht in Gefahr bringen! Diesbezüglich arbeiten wir auch eng mit den Behörden zusammen! Daher weiß ich, dass es Anhänger dieser Vereinigung waren, die Sie damals verfolgt und das Leben Ihrer Frau genommen haben. Ich versichere Ihnen, Erik, nirgendwo wären Sie und Ihre Tochter sicherer als bei uns!“
Die letzten beiden Worte hörte Erik nur mehr von weitem, da er bereits dabei war, den Hörer auf die Gabel zu knallen. Er bebte vor Schmerz, Wut und Trauer. Wie konnte dieser Mensch es wagen, von seiner Frau zu sprechen? Welche Unverschämtheit war es, dass er diese persönlichen Informationen ausgegraben hatte und ihn damit konfrontierte. Doch es hatte auch noch einen anderen bitteren Nachgeschmack, als alleine das Gefühl bloßgestellt zu sein. Es war ihm unangenehm, dass dieser Alarik so viel von ihm wusste, sogar mehr als er selbst.
Es war also eine Art fanatische Gruppe gewesen, die sie damals verfolgt hatte. Warum? Was zum Teufel wollten sie von seiner Familie?
Er hatte es schon Wochen vor seiner Flucht bemerkt, dass sie von einigen der Nachbarn beobachtet wurden. Jeder ihrer Schritte. Es wurden intime Fragen zu seiner Tochter gestellt, die wohl beiläufig hätten klingen sollen.
Erik und seine Frau hatten gewusst, dass ihre Tochter eine Anomalie darstellte. Sie kannten die alten Geschichten und sie konnten nicht sicher sein, dass es diese Leute, die sie bedrängten, mehr über Daria zu erzählen, nicht aus diesem Grund auf sie abgesehen hatten! Nicht jeder der Elementträger wünschte sich die Rückkehr des Elementaren. Viele von ihresgleichen fühlten sich den gewöhnlichen Menschen überlegen und wollten diese vermeintliche Vormachtstellung nicht riskieren, das hatte er gewusst. Aber dass sich daraus eine Vereinigung gebildet hatte, die zu solchen Dingen im Stande war, hatte er bisher nicht gewusst. Vielleicht konnte dieser Alarik ihm Informationen liefern und Daria besser beschützen, als er es alleine vermochte.
Dieser Gedanke schmerzte ihn sehr, aber er musste sich eingestehen, dass er sich in einer Sackgasse befand. Seine Geldreserven waren bereits vor Jahren aufgebraucht gewesen und er schaffte es kaum mit drei Jobs, das Geld für die Kreditraten aufzubringen. Abgesehen davon graute ihm bereits vor dem Tag, an dem er das geborgte Geld an Kopack zurückzahlen musste. Erik hatte die Summe nicht einmal annähernd zusammengespart, obwohl die Frist fast vorbei war, und er wusste nicht, was Kopack und seine Leute ihm antun würden, wenn er nicht rechtzeitig zahlen könnte.
Hatte er nicht auch seit dem Tag seiner Bewerbung darauf gehofft, dass er doch noch irgendwann im Kraftwerk anfangen konnte? Und Daria, sie musste auf so viel verzichten. Sie war mittlerweile zu einer jungen Frau herangewachsen und musste neben ihrer Mutter auch jede noch so kleine Annehmlichkeit entbehren. So wie sie derzeit lebten, immer auf der Flucht, hatte sie nicht einmal ein richtiges Zuhause. Denn das war der Hauptgrund für die ständigen Umzüge, die Angst davor, ihre einstigen Verfolger könnten sie aufspüren. Da er keinerlei Informationen hatte, warum sie damals wirklich von ihnen gejagt wurden, aber sehr wohl wusste, wozu sie fähig waren, hatte ihre Flucht bisher kein Ende gefunden. Er wusste, Daria belastete es sehr, ständig herumzuziehen, nie Freundschaften aufbauen zu können.
Erik kniff die Augen fest zusammen, als könnte er die Antworten auf der Innenseite seiner Lider lesen. Dann, kurzerhand entschlossen, nahm er den Hörer wieder auf und drückte mit zitterndem Finger die Rückruftaste. Es klingelte nur zwei Mal, dann meldete sich eine Frauenstimme, die ihn dazu aufforderte, kurz zu warten. Ein paar Atemzüge später war wieder Alarik Terres am Telefon. „Sie haben sich entschieden?“, fragte er vorsichtig und entschuldigte sich dafür, Erik zuvor so überrumpelt zu haben.
Erik willigte ein, den Job anzunehmen. Alarik erklärte ihm, dass er ihnen Flugtickets hinterlegen würde. Der Flug ging bereits am nächsten Tag. Sie würden von einem Privatchauffeur vom Flughafen abgeholt und zuerst in den Firmensitz gebracht werden. Dort sollte Erik den Dienstvertrag unterschreiben und anschließend könnten sie ihr neues Zuhause beziehen.
Am Montag würde für Daria bereits der erste Schultag beginnen. Alle benötigten Bücher und Unterlagen würden bis dahin bereitliegen. Alariks Sohn Vincent werde Daria abholen und sie durch den Tag begleiten, um ihr den Einstieg zu erleichtern.
Noch ganz benommen von der Flut an Informationen trabte Erik zurück zu seiner Wohnung. Auf halbem Wege fiel ihm ein, dass er sich gar nicht bei der Vermieterin bedankt und verabschiedet hatte. Sie hatte sich höflicherweise in die angrenzende Küche zurückgezogen und Erik war so perplex gewesen, dass er nach Beendigung des Telefonats einfach gegangen war. Er entschied sich, die Vermieterin nicht mehr zu belästigen und setzte sich wieder in Bewegung.
Daria wartete in der Küche auf ihn. Sie hatte eine Kanne Wasser zugestellt und zwei Tassen mit Teebeuteln darin standen bereit. Aus großen, wachen Augen blickte sie ihn an, als er den Stuhl zurückzog und sich geräuschvoll darauf niederließ.
„Liebes, erinnerst du dich noch, dass ich mich einmal für einen Posten im Wasserkraftwerk am Grenzer See beworben habe?“
Daria hatte den Eindruck, dass es ihrem Vater schwerfiel, nicht gleich die ganze Geschichte auszuposaunen, welche ihm offensichtlich auf der Zunge brannte. Sie wusste es noch, als wäre es erst gestern gewesen. Ihr Vater wollte den Posten unbedingt. Hatte tagelang über dem Bewerbungsschreiben gebrütet, damit es perfekt war. Doch wurde er nie zu dem Auswahlverfahren eingeladen und war dementsprechend frustriert gewesen. Noch Wochen später hatte er gehofft, von der Firma zu hören, denn er versprach sich von dieser gutbezahlten Anstellung einen Neustart für sie beide.
Daria nickte und signalisierte ihm gleichzeitig, er solle weitersprechen.
Ihr Vater nahm einen Schluck von dem noch viel zu heißen Tee und musste husten. Mit leicht belegter Stimme fuhr er fort. „Sie haben sich tatsächlich bei mir gemeldet und mir eine Stelle angeboten. Diese ist nicht nur ausgezeichnet bezahlt, wir bekommen auch eine Dienstwohnung und du kannst die dortige Privatschule besuchen. All unsere Geldsorgen wären ein für alle Mal erledigt!“, schloss er begeistert.
Daria kannte ihren Vater nur zu gut und war sich im Klaren, dass er ihr nur einen Teil der Geschichte erzählt hatte. Doch gleichermaßen wusste sie, er würde nicht damit herausrücken, egal wie sehr sie ihn drängte. „Du willst mir sagen, sie stellen dich einfach so an und unsere Probleme lösen sich in Luft auf?“
Daria beäugte ihren Vater skeptisch, doch er wusste, welche Karte er spielen musste, um die Bedenken seiner Tochter zu zerstreuen. Sie wünschte sich ein festes Zuhause, doch noch mehr als das wünschte sie sich endlich irgendwo Anschluss zu finden, dazuzugehören, denn sie war schlichtweg einsam. „Wir würden in einer Kolonie wohnen und auch die Schule ist nur für Elementträger“, setzte er taktisch nach.
Daria riss die Augen auf. Das hatte sie mehr als nur überrascht. Es hatte einen Nerv in ihr getroffen. Nichts wollte sie sehnlicher, als mit anderen Elementträgern zusammenzuleben, sich selbst und ihre Wurzeln nicht