Corona
zwischen Querdenken
und Regierungspolitik
Texte von
Volker Bräutigam, Friedhelm Klinkhammer, Elena Berg, Meinhard Creydt, Liane Kilinc, Rüdiger Rauls, Ortwin Rosner und
Andreas Wehr
Herausgeber: Rüdiger Rauls
Herausgegeben im Eigenverlag
Trier
2021
Einleitung
In der aktuellen Coronakrise werden die Menschen nicht nur von Viren überschwemmt sondern auch von Informationen. Leiden die Betroffenen unter dem Virus, so leiden die Noch-nicht-Betroffenen unter der Verunsicherung. Eine Flut von Informationen, Meinungen, Fakten, Theorien, Studien, Ansichten und Schlussfolgerungen bricht über sie herein. Argumente belegen, wieder andere widerlegen. Und alle Erkenntnisse wollen wissenschaftlich ermittelt sein.
Eine Inflation von Studien ergießt sich in die Gesellschaft. Alle nehmen Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch. Aber kaum sind sie veröffentlicht, werden sie von einer anderen in ihrer Gültigkeit eingeschränkt, angezweifelt, widerlegt. In vielen Fällen wird die Diskussion von den Medien in reißerischer Form angeheizt, sodass es immer weniger um Wahrheit zu gehen scheint, sondern immer mehr um Erregungszustände und darum, wer Recht hat.
Da alles als wissenschaftlich belegt gilt, wissen viele am Ende nicht mehr, was richtig ist und was falsch. Wem sollen sie glauben? Wie wissenschaftlich ist Wissenschaft, wenn jede Theorie oder Meinung sie für sich in Anspruch nimmt, aber trotzdem widerlegbar ist oder scheint? Welche Bedeutung hat Wissenschaft noch, wenn selbst die Wissenschaftler in vielen Fragen unterschiedlicher Meinung sind, das aber wissenschaftlich begründet.
Den meisten Menschen fehlen Zeit und Voraussetzungen, um sich im Streit derer zu orientieren, die doch als Fachleute gelten. Wer aus dem Publikum ist schon in der Lage, die meisten Aussagen auf Richtigkeit und Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen? Wer unter den Laien kann schon sagen, was richtig ist und falsch?
Für diese wird im Streit der Meinungen immer weniger der Inhalt der Aussage zum entscheidenden Kriterium als vielmehr Glaubwürdigkeit und Ansehen der Personen, die sie vertreten. Unter solchen Umständen gerät Wissenschaftlichkeit zunehmend in Misskredit. Vieles klingt nur so lange schlüssig, wie es unangefochten bleibt. Der klare Menschenverstand hat schon lange keine Chance mehr.
Der Streit der Meinungen ist auch ein Streit der Interessen, denen diese Meinungen nützen, dienen oder gar von ihnen gefördert werden. Da diese Auseinandersetzungen für die meisten Menschen immer undurchschaubarer werden, ziehen sie sich aus der öffentlichen Diskussion zunehmend zurück.
Das gilt nicht nur für Corona. Sie wissen nicht mehr, wem sie glauben sollen. Wissenschaft, die eigentlich Glauben durch Erkenntnis hatte ersetzen wollen, wird selbst immer mehr zu einem Glaubensbekenntnis. Bekennertum und Parteinahme auf der einen Seite sowie Missgunst und Rechthaberei auf der anderen ersetzen die sachliche Auseinandersetzung.
Menschen wollen verstehen, was vor sich geht. Denn Verstehen schafft Sicherheit. Aber in Zeiten der Verunsicherung wollen sie sich nicht gerade erst erworbene sichere Standpunkte im Treibsand der Veränderung nehmen lassen durch Sichtweisen, die ihren festen Gewissheiten den Boden unter den Füßen wegziehen. Deshalb kämpfen die Verunsicherten für ihre Ansichten und die Sicherheit, die sie ihnen geben sollen. Das ist verständlich. Aber schafft Parteinahme mehr Erkenntnis, mehr Wahrheit und dadurch mehr Sicherheit?
Die Anhänger der verschiedenen Meinungen bilden Lager in der Hoffnung, damit der Verunsicherung zu entgehen, die durch neue Sichtweisen entstehen. Dass alles wieder durcheinander kommt, ist in ihren Augen die Schuld derer, die anders denken. Die Verunsicherten erkennen nicht oder wollen nicht wahrhaben, dass auf dem Weg zur Wahrheit alte Sichtweisen untergehen. Sie gehen unter, weil sie überholt sind, nicht weil sie Lügen sind. Die alten Sichtweisen entsprechen nicht mehr der Wirklichkeit.
Aber geht es überhaupt noch um Wahrheit, wenn im Gefolge des scheinbar wissenschaftlichen Streits Bekenner und Kritiker sich zu Glaubenskriegern verwandeln und unversöhnlich gegenüber stehen?
Zurück bleiben diejenigen, denen zwischen den Fronten der Streithähne und Rechthaber die Orientierung verloren gegangen ist. Sie wissen nicht mehr, was und wem sie glauben können. Wessen Theorien, Meinungen und Behauptungen sind richtig? Dieses Problem des Glaubwürdigkeitsverlusts der Wissenschaft ist auf der Ebene von Beweisen und Tatsachen alleine ist nicht zu lösen. Tatsachen können Erkenntnisse nicht ersetzen. Erkenntnisse sind mehr als nur die Summe der Tatsachen.
Für Befürworter wie Kritiker der Treibhaus-Theorie ist die Tatsache gleich, dass der Anteil des Kohlendioxids in der Luft 0,04% beträgt. Aber beide Seiten deuten diese Tatsache anders und kommen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Die einen sehen darin die Gefahr des Untergangs für die Menschheit, die anderen halten den Wert im historischen Vergleich für unbedeutend.
Und beide stützen sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Tatsachen für ihre Meinungen und Prophezeiungen. Oft genug werfen sich dabei beide Seiten gegenseitig Unwissenschaftlichkeit vor. Aber wer aus dem Publikum soll sich zurechtfinden im Wust der wissenschaftlichen Begriffe und Lehrmeinungen?
Dabei geht die eigentlich wichtige Frage völlig unter, nicht nur beim Thema Corona, sondern auch bei so manchen anderen gesellschaftlichen Fragen. Was ist wahr? Was entspricht der Wirklichkeit? Diese Frage tritt immer mehr in den Hintergrund in dieser Rechthaberei und dem Gerangel um Geltung und Einfluss.
Den meisten Menschen, für die Corona-Epidemie die bisher größte Bedrohung in ihrem Leben war, ist die Frage zweitrangig, wer Recht hat. Ihnen geht es darum, was richtig ist. Wo ist der feste Boden, von dem aus in die Zukunft aufgebrochen werden kann? Welche Aussagen sind wahr, was entspricht der Wirklichkeit? Fakten alleine helfen nicht weiter, wenn auch Tatsachen für die Richtigkeit von Aussagen unverzichtbar sind. Sie sind die Pfeiler, auf die sich die Brücke hin zur Wahrheit stützt.
Aber wie schon das Beispiel des Kohlendioxid zeigte, sind die Tatsachen alleine auch nicht ausreichend und auch nicht maßgebend, denn sie können unterschiedlich gedeutet werden. Keine Faktenflut kann die richtige Einordnung in der Entwicklung des Geschehens ersetzen. Bei der Deutung von Tatsachen hilft nicht alleine die Menge an Informationen sondern vielmehr Orientierung.
Welches Wissen und welche Erkenntnis sind wichtig für die Einschätzung der Lage? Was ist zum Erkennen der Wirklichkeit wichtig? Was ist von höherer und was von untergeordneter Bedeutung für das Verstehen der Vorgänge? Denn nur wer die Wirklichkeit richtig erkennt, kann auch die richtigen Schlüsse ziehen. Im Falle der Pandemie bedeutet das, die richtigen und wirksamen Maßnahmen zu ergreifen zur Überwindung der Bedrohung und zum Schutz der Menschen.
Gerade das Erkennen der Wirklichkeit ist der schwerste Teil der Übung und dann folgt noch als nächste Hürde das An-Erkennen der Wirklichkeit. Will man wahrhaben, was die Fakten über die Wirklichkeit aussagen? Trotz der Masse an Informationen, die nie größer war als heute, fehlt vielen Menschen die Orientierung zum Erkennen der Wirklichkeit.
Es ist akademischer Irrglaube, dass die Richtigkeit von Entscheidungen von dem Maß an vorliegender Information abhängt. Wer keine Vorstellung von der Wirklichkeit hat, kann aus noch so vielen und noch so vielfarbigen Mosaiksteinen nicht diejenigen auswählen, die nachher ein verständliches Bild ergeben.
Wer keinen Plan davon hat, wie die bunten Mosaiksteine des Wissens zusammengelegt werden können, dass dabei auch tatsächlich ein Abbild der Wirklichkeit entsteht, kann die Wirklichkeit nicht sachgemäß abbilden. Dazu gehört mehr als eine Fülle von Informationen. Dazu gehört vor allem ihre sachdienliche Auswahl für das darzustellende Abbild der Wirklichkeit.
Das aber bedeutet, dass es der Orientierung, der Ausrichtung, des Wissens um das Ziel bedarf. Und dieses Ziel heißt: das Erkennen der Wirklichkeit! Dabei geht es nicht um unsere Wünsche. Denn Wirklichkeit ist von diesen weitgehend unabhängig und entzieht sich in vielen Bereichen der Beeinflussung durch den Menschen.
Die Erde war immer eine