Draußen konnte er den hohen Bau des Domes sehen, der wie ein Scheingebilde über den schattenversunkenen Häusern emporragte, und die müden Schildwachen, die auf der nebligen Terrasse am Fluß auf und ab gingen. Weit entfernt sang eine Nachtigall in einem Obstgarten. Ein leiser Jasminduft kam durch das offne Fenster. Er strich seine braunen Locken aus der Stirn, nahm eine Laute und ließ seine Finger über die Saiten gleiten. Seine schweren Augenlider sanken, und eine seltsame Erschlaffung überkam ihn. Noch nie hatte er bisher so eindringlich oder mit einer solchen köstlichen Freude den Zauber und das Geheimnis schöner Dinge empfunden.
Als es von dem Glockenturm Mitternacht schlug, klingelte er, und seine Pagen traten ein und entkleideten ihn mit großer Feierlichkeit, indem sie Rosenwasser über seine Hände gossen und Blumen auf sein Kissen streuten. Wenige Minuten, nachdem sie das Zimmer verlassen hatten, schlief er ein.
Und als er schlief, träumte er einen Traum, und dieses war sein Traum:
Er glaubte, er stände in einer langen, niedrigen Dachstube inmitten des Schwirrens und Rasselns vieler Webstühle. Ein dürftiges Tageslicht drang durch die vergitterten Fenster und zeigte ihm die mageren Gestalten der Weber, die sich über ihre Gehäuse beugten. Bleiche, krank aussehende Kinder krochen über die schweren Querbalken. Wenn die Weberschiffchen durch die Kette schossen, dann hoben sie die schweren Laden hoch, und wenn die Schiffchen hielten, dann ließen sie die Laden fallen und preßten die Fäden zusammen. Ihre Gesichter waren eingefallen vom Nahrungsmangel, und ihre dünnen Hände bebten und zitterten. Einige abgehärmte Frauen saßen an einem Tisch und nähten. Ein schrecklicher Geruch erfüllte den Raum. Die Luft war verdorben und drückend, und die Wände tropften und strömten von Feuchtigkeit.
Der junge König trat zu einem der Weber hin, blieb bei ihm stehen und beobachtete ihn.
Aber der Weber blickte ihn ärgerlich an und sagte: »Warum beobachtest du mich? Bist du ein Spion, den unser Meister über uns gesetzt hat?«
»Wer ist dein Meister?« fragte der junge König.
»Unser Meister?« rief der Weber bitter. »Er ist ein Mann, wie ich auch. Es gibt tatsächlich nur einen Unterschied zwischen uns, nämlich, daß er feine Kleider trägt, und ich in Lumpen gehe, und daß, während ich elend vor Hunger bin, er nicht wenig durch zu reichliches Essen leidet!«
»Das Land ist frei,« sagte der junge König, »und du bist keines Mannes Sklave.«
»Im Kriege«, antwortete der Weber, »macht der Starke den Schwachen zum Sklaven, und im Frieden macht der Reiche den Armen zum Sklaven. Wir müssen arbeiten, um zu leben, und sie geben uns so niedrige Löhne, daß wir sterben. Den ganzen Tag über quälen wir uns für sie ab, und sie sammeln das Gold in ihren Schatzkammern. Unsere Kinder siechen vor der Zeit dahin, und die Gesichter derer, die wir lieben, werden hart und häßlich. Wir keltern die Trauben, und die andern trinken den Wein. Wir säen das Korn, und unser eigener Tisch ist leer. Wir tragen Ketten, wenn auch keiner sie sieht, und sind Sklaven, obgleich die Menschen uns frei nennen.«
»Ist das so mit allen?« fragte er.
»Es ist so mit allen,« antwortete der Weber, »mit den Jungen sowohl wie mit den Alten, mit den Frauen sowohl wie mit den Männern, mit den kleinen Kindern sowohl wie mit denen, die hochbejahrt sind. Die Kaufleute schinden uns, und wir müssen aus Not ihren Befehlen gehorchen. Der Priester fährt vorüber und betet seinen Rosenkranz, und niemand kümmert sich um uns. Durch unsere lichtlosen Gassen kriecht die Armut mit ihren hungrigen Augen, und das Laster mit seinem geschwollenen Gesicht folgt ihr auf dem Fuße. Elend weckt uns auf am Morgen, und Schande sitzt bei uns am Abend. Aber was sind diese Dinge für dich? Du bist keiner von uns. Dein Gesicht ist zu glücklich.« Und er wandte sich finster von ihm ab und warf das Schiffchen in den Webstuhl, und der König sah, daß es mit goldenen Fäden gefüllt war.
Da überkam ihn ein großer Schrecken, und er fragte den Weber: »Was ist das für ein Kleid, das du webst?«
»Es ist das Krönungskleid des jungen Königs,« antwortete er; »was kümmert das dich?«
Und der junge König stieß einen lauten Schrei aus und erwachte, und siehe, er befand sich in seinem eigenen Zimmer, und durch das Fenster sah er den großen honigfarbenen Mond am dunklen Himmel hängen.
Und er schlief wieder ein und träumte, und dies war sein Traum:
Er glaubte, er läge auf dem Verdeck einer riesigen Galeere, die von hundert Sklaven gerudert wurde. Auf einem Teppich neben ihm saß der Herr der Galeere. Er war schwarz wie Ebenholz, und sein Turban war von roter Seide. Große silberne Ohrringe zogen die dicken Ohrläppchen herab, und in seiner Hand hatte er eine elfenbeinerne Wage.
Die Sklaven waren nackt bis auf ein zerfetztes Lendentuch, und jedermann war mit seinem Nachbar zusammengekettet. Die heiße Sonne brannte grell auf sie herab, und die Neger liefen den Gang hinauf und hinunter und schlugen sie mit Lederpeitschen. Die Sklaven streckten ihre mageren Arme aus und zogen die schweren Ruder durch das Wasser. Der salzige Schaum floß von den Schaufeln.
Schließlich erreichten sie eine kleine Bucht und begannen zu loten. Ein leichter Wind wehte vom Ufer und überzog das Verdeck und das große Lateinsegel mit seinem roten Staub. Drei Araber, die auf wilden Eseln saßen, ritten hervor und warfen Speere nach ihnen. Der Herr der Galeere nahm einen bemalten Bogen in seine Hand und schoß einen von ihnen in die Kehle. Er fiel schwer in die Brandung, und seine Gefährten galoppierten davon. Eine in einen gelben Schleier gehüllte Frau folgte langsam auf einem Kamel und sah sich dann und wann nach dem Toten um.
Sobald sie Anker geworfen und das Segel eingezogen hatten, gingen die Neger unter Deck und zogen eine lange Strickleiter herauf, die schwer mit Blei belastet war. Der Herr der Galeere warf sie über Bord und befestigte die Enden an zwei eisernen Pfosten. Dann ergriffen die Neger den jüngsten der Sklaven, schlugen seine Fesseln ab, füllten seine Nasenlöcher und seine Ohren mit Wachs und befestigten einen schweren Stein an seinem Leib. Müde kroch er die Leiter hinab und verschwand in der See. Ein paar Blasen stiegen auf, wo er versank. Einige von den andern Sklaven blickten neugierig über die Bordseite. Am Bug der Galeere saß ein Haifischbeschwörer und schlug einförmig auf eine Trommel. Nach einiger Zeit kam der Taucher aus dem Wasser empor und hing keuchend an der Leiter mit einer Perle in seiner rechten Hand. Die Neger entrissen sie ihm und stießen ihn wieder hinab. Die Sklaven schliefen an ihren Rudern ein.
Wieder und wieder tauchte er auf, und jedesmal brachte er eine schöne Perle empor. Der Herr der Galeere wog sie und steckte sie in eine kleine Tasche aus grünem Leder.
Der junge König versuchte zu sprechen, aber seine Zunge schien ihm am Gaumen zu kleben, und seine Lippen verweigerten den Dienst. Die Neger schwatzten miteinander und begannen über eine Schnur glänzender Perlen zu streiten. Zwei Kraniche flogen im Kreise um das Schiff.
Dann kam der Taucher zum letzten Mal empor, und die Perle, die er mitbrachte, war schöner als alle Perlen des Ormuzd, denn sie war geformt wie der Vollmond und weißer als der Morgenstern. Aber des Sklaven Gesicht war seltsam bleich, und als er auf das Verdeck fiel, strömte ihm Blut aus Nase und Ohren. Er bebte noch eine Weile, dann war er still. Die Neger zuckten ihre Achseln und warfen die Leiche über Bord.
Aber der Herr der Galeere lachte. Er streckte seine Hand aus, nahm die Perle, und als er sie sah, drückte er sie gegen seine Stirn und verneigte sich. »Sie soll für das Zepter des jungen Königs sein,« sagte er und gab den Negern ein Zeichen,