Martin Geiser
Verklärtes Orchester
Roman
Titelbild:
Gabriela Strupler: »Verklärtes Orchester«, 2017
Autorenfoto: © Bernhard Jörg
Verklärtes Orchester
Martin Geiser
Copyright: © 2017 Martin Geiser
Lektorat: SID Sprachen GmbH Solothurn,
Jacqueline Joss
Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-7418-8994-3
Printed in Germany
Bibliografische Information der
Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
www.martin-geiser.com
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In Gedenken
an meine geliebte Mutter Ursula
Das wunderbarste Märchen ist das Leben selbst.
Hans Christian Andersen
Es fühlte sich an, als ob sich ein Schmetterling auf ihrer Wange niedergelassen hätte und ihr mit seinen zarten, dünnen Flügeln einen feinen Hauch frische Luft zufächelte, dessen angenehme Kühle sich von diesem Punkt aus in ihrem ganzen Körper verbreitete und die Hitze, die sich in ihrem Kopf gestaut hatte, zu lindern vermochte.
Die Klänge, die sich in ihr festgesetzt hatten, waren plötzlich in den Hintergrund gerückt und tönten dumpf und leise, als ob sie von weit her durch eine dünne Wand vernehmbar wären. Dafür brummte ein regelmäßiges Summen in ihren Ohren, welches sich über die Klänge schob und das sie nicht einmal so sehr als unangenehm empfand.
Sie schaute zur stuckverzierten Decke hoch und wurde augenblicklich von einem starken Glücksgefühl überwältigt, welches ihr endlich die notwendige Sicherheit gab, die ihr bisher gefehlt hatte.
Gleichzeitig aber begannen ihre Hände zu zittern; die Aufregung machte sich bemerkbar, und sie blickte in aufgewühlter Erregung nach links und rechts, musterte die aufmerksamen Gesichter in ihrer Reihe, die natürlich nicht mitbekommen hatten, welch enorme Wandlung sich in diesem Moment in ihr abgespielt hatte.
Sie war sich nun sicher, was sie zu tun hatte. Es war wie eine Befreiung, als ob die Ketten, die sie eingeengt hatten, plötzlich gesprengt waren und ihr damit wieder Luft zum Atmen verschafft wurde.
Und gleichzeitig stellte sie tief in sich drinnen eine Leichtigkeit fest, welche sie beinahe erschreckte. Wie klar sie doch von einem Moment auf den anderen plötzlich alles sah! Wie deutlich ihr doch alles erschien, als ob ihr Schuppen von den Augen gefallen wären. Wie hatte sie nur so blind sein können!
Wie von magischer Hand geführt erhob sie sich mit einer unglaublichen Selbstverständlichkeit ganz langsam und spürte augenblicklich die erstaunten und ärgerlichen Blicke rund um sie herum, die ihr zugeworfen wurden und die sie jedoch in keiner Art und Weise an ihrer Absicht hindern konnten.
Lächelnd drängte sie sich, die zischenden Beleidigungen ignorierend, Schritt für Schritt an den angezogenen Knien vorbei. Einem älteren Herrn trat sie mit ihrem Absatz auf die Zehen, worauf dieser kurz aufschrie; sie warf ihm für das Missgeschick einen entschuldigenden Blick zu und formte mit ihren Lippen ein Sorry, das allerdings seine Wirkung verfehlte, wenn sie das zornige Funkeln in seinen Augen richtig deuten konnte.
Als sie den Mittelgang erreicht hatte, blieb sie einen Augenblick stehen und blickte nach vorne, von wo die traurigen und berührenden Klänge herkamen, die sich jetzt wieder mit voller Wucht in ihr Bewusstsein geschoben hatten. Sie spürte ein Kribbeln in ihren Fingerspitzen und fragte sich für einen kurzen Moment, ob es nicht doch das Beste wäre, umzudrehen und den Saal zu verlassen.
War das wirklich ein ernsthaftes Zögern?
Da vorne stand er; mit seinen eleganten und bestimmten Bewegungen zog er sie und die anderen Anwesenden in seinen Bann, und mit den Klängen, die er hervorzauberte, gelang es ihm, sie in eine andere Welt zu versetzen, in der Zeit und Raum keine Rolle mehr spielten.
Als ob er magnetische Eigenschaften hätte, wurde sie von ihm unweigerlich angezogen, und die Gedanken an einen Abgang waren augenblicklich weggewischt.
Sie hob den Kopf und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, so als wolle sie jeglichen Lärm vermeiden. Langsam, aber zielstrebig, näherte sie sich der Bühne, während die Zuschauer erstaunt ihre Köpfe drehten und sie mit offenem Mund anstarrten.
Ihr weißes Sommerkleid aus reiner Seide verlieh ihr etwas Engelhaftes, und im Nachhinein sollte sich der eine oder andere Anwesende nicht mehr so ganz sicher sein, ob ihre Füße überhaupt den Boden berührt hätten. Es entstand beinahe der Eindruck, als ob sie schwebend nach vorne gleiten würde.
Der erste Zuschauer stand auf, als sie etwa die Mitte des Saales erreicht hatte, und es sollte fürwahr nicht der einzige bleiben. Einer nach dem anderen erhob sich von seinem Sitz und blickte staunend auf die Gestalt, die nach vorne zur Bühne schritt, und es war – durch die helle Kleidung bedingt –, wie wenn sich eine Lichtquelle im Raum vorwärts bewegen würde.
Als ob es abgesprochen wäre, erhob sich von hinten nach vorne Sitzreihe um Sitzreihe, und irgendwann wurde es den Cellisten am vordersten Pult zu unheimlich und sie hörten auf zu spielen, was sich innerhalb weniger Momente auf das gesamte Orchester übertrug. Die Musiker, die zuhinterst saßen, standen auf, damit sie sehen konnten, was im Saal unten vor sich ging, und der Dirigent ließ seine Arme fallen und drehte sich um.
Inzwischen war sie ganz vorne angekommen und blieb vor der Bühne stehen. Sie strahlte ihn an, während rund um sie herum komplette Stille herrschte.
Sie sah hoch, ein zurückhaltendes und geheimnisvolles Lächeln auf ihrem Gesicht, und öffnete ganz leicht ihren Mund.
Er sollte sich im Nachhinein nicht mehr so sicher sein, ob er die Worte tatsächlich gehört oder ob er sie bloß von ihren Lippen abgelesen hatte.
D A V O R
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