Grenze als Erfahrung und Diskurs
Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektivierungen
Hermann Gätje / Sikander Singh
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
[bad img format]
© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
www.francke.de • [email protected]
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-7720-0065-2
[bad img format]
Vorwort
Die Frage nach der Dynamik von Grenzziehungs- und Grenzverschiebungsprozessen wird seit einiger Zeit von der geistes- wie der sozialwissenschaftlichen Forschung fokussiert. Diese gehen davon aus, dass es eine folgenreiche Perspektivenverschiebung und damit verbunden einen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn ermöglicht, kulturelle, soziale, wirtschaftliche und rechtliche Phänomene von den Prozessen der Grenzziehung aus zu betrachten.
Zugleich rückt die Wechselbeziehung von Grenzen und Ordnungen ins Zentrum wissenschaftlicher Überlegungen: Einerseits konstituieren Grenzen Ordnungen und Sinnstrukturen. Andererseits produzieren Ordnungen Grenzen. Die Tatsache, dass Grenzen mit dem Einsetzen der Moderne im 19. Jahrhundert in eine beschleunigte Bewegung geraten sind, schlägt sich heute in einer Vielzahl von aktuellen Terminologien nieder. Die Frage danach, welche Auswirkungen von derartigen Veränderungen für die Ordnungen ausgehen, in denen wir leben, beschreibt dabei einen wesentlichen Punkt des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses des vorliegenden Bandes. Im Zuge der momentanen Flüchtlingsbewegungen hat das Thema der Grenze – in seiner historischen Dimension – zudem an politischer Brisanz gewonnen. Menschen harren wartend vor den Grenzen Europas aus. Die Politik und Gesellschaft diskutieren Maßnahmen der „Grenzsicherung“ bzw. die Frage nach der „Durchlässigkeit“ von Grenzen.
Die geschichts- und literaturwissenschaftlichen Beiträge dieses interdisziplinär ausgerichteten Bandes nehmen diese aktuellen politischen Entwicklungen wie neueren Forschungsbewegungen gleichermaßen auf. Das Phänomen des Exils wird dabei in empirischer wie in methodischer Hinsicht nicht von seinen Zentren, sondern von den Grenzen aus in den Blick genommen.
Ausgehend von einem regionalen Schwerpunkt auf das Saargebiet (Territoire du Bassin de la Sarre), den das Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass als Archiv der Großregion Saar-Lor-Lux wissenschaftlich aufarbeitet, diskutieren die hier versammelten Aufsätze Darstellungen von und über den Gang in das Exil, seien es Landwege nach Frankreich, Belgien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, die Schweiz, die skandinavischen Länder, in die Sowjetunion, die Tschechoslowakei oder Überseereisen nach Großbritannien, Mittel- und Lateinamerika oder die Vereinigten Staaten von Amerika.
Mit seinen Grenzen zu Deutschland und Frankreich war das Saargebiet, das seit 1920 als Mandatsgebiet vom Völkerbund verwaltet wurde, für zahlreiche Verfolgte des Nationalsozialismus bis zum Jahr 1935 ein erstes Ziel ihres Exils und diente oftmals als Durchgangsstation. Zudem fungierte die Region in dieser Zeit als eine Schnittstelle für die Organisation des illegalen Widerstands gegen den Nationalsozialismus im Deutschen Reich und war dabei – wie auch andere Grenzregionen – selbst ein Ort des Exils: Die geringe Entfernung zur deutschen Grenze evozierte – charakteristisch für grenznahe Exilräume – eine ambivalente Gefühlslage. Die Nähe zur verlassenen Heimat kontrastierte mit der Bedrohung, die von derselben ausging.
Die hier versammelten Aufsätze sind Ergebnis einer Tagung, zu der das Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes gemeinsam mit der Gesellschaft für Exilforschung e.V. im März 2017 nach Saarbrücken eingeladen hat. Die Herausgeber danken der Gesellschaft für Exilforschung e.V., insbesondere ihrem Vorstand, für die ebenso vertrauensvolle wie in jeder Hinsicht konstruktive Zusammenarbeit.
Das Ministerium für Bildung und Kultur des Saarlandes hat die Ausrichtung der Tagung und die Drucklegung dieses Bandes durch sein großzügiges Engagement finanziell unterstützt. Das Gustav-Regler-Archiv Merzig, Frau Annemay Regler-Repplinger, hat die Durchführung der Tagung ebenfalls finanziell gefördert. Ihnen gilt der besondere Dank der Herausgeber.
Ferner danken wir den Referentinnen und Referenten für ihre engagierten Diskussionsbeiträge und – nicht zuletzt – den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsass für ihre hilfreiche Mitarbeit bei der Durchsicht und Einrichtung der Manuskripte für den Satz.
Saarbrücken, im Januar 2018
Hermann Gätje und Sikander Singh
Literarische Perspektivierungen
Von der (konkreten) Wahrheit der Grenze
Bertolt Brechts Grenzbetrachtungen im Exil
Johannes F. Evelein, Hartford/CT
AN DIE DÄNISCHE ZUFLUCHTSSTÄTTE
Sag, Haus, das zwischen Sund und Birnbaum steht:
Hat, den der Flüchtling einst dir eingemauert
Der alte Satz DIE WAHRHEIT IST KONKRET
Der Bombenpläne Anfall überdauert?
I. Überlegungen zum Grundmotiv der Grenze
Ich aber ging über die Grenze lautet der Titel eines frühen Gedichts von Stefan Heym. „Über die Berge, da noch der Schnee lag, / auf den die Sonne brannte durch die dünne Luft. / Und der Schnee drang ein in meine Schuhe“.1 Das Gedicht, in dem Heym (geboren Helmut Flieg) seine Flucht aus Nazideutschland in die Tschechoslowakei verdichtet, hält paradigmatisch fest, wie tief Exil und Grenze miteinander verbunden sind. Der eigentliche Beginn des Exils geht mit dem Moment der Grenzüberschreitung einher, welche die Gleichzeitigkeit von Ende und Anfang, Ausstieg und Einstieg konkretisiert. Somit ist es nicht verwunderlich, dass die Grenze eines der wichtigsten und bedeutungsträchtigsten Grundmotive der Exilliteratur ist. In Mythos und Sachlichkeit – Beobachtungen zur Grenze in der Exilliteratur stellt Markus Bauer fest:
Vor dem Exil liegt die Grenze. Sie trennt und verbindet auf vielfältige Weisen. Für die Literatur wirkt dieses oft grausame Leben jenseits der Grenze beflügelnd, zieht es doch von den ‚Tumulten der Welt‘ ab (oder gerade in sie hinein), gibt der Klage Form, macht das Gesicht der Gewalt kenntlich.2
An dieser trennend-verbindenden Grenze führt kein Weg vorbei: sie ist nicht neutral, man muss sich ihr stellen, mit ihrer konkreten Sperrkraft ringen und ihrer Einladung zur Kontemplation Gehör leisten. Sie zwingt den Grenzüberschreitenden zu einer Gegenüberstellung von hier und dort, gestern und heute. Mag dies für Reisende eine philosophische Übung sein, für Flüchtlinge ist es eine existentielle Herausforderung, eine Krise, die radikaler nicht sein könnte.
In seinem Lob der Grenze stellt der Philosoph Konrad Paul Liessmann eine Verbindung zwischen „Grenze“ und „Krise“ her, indem er Letztere auf das griechische Verb krínein zurückführt, das er mit „trennen“ oder „unterscheiden“ übersetzt und auf dessen etymologische Verwandtschaft mit „Kritik“ er hinweist. Grenzen wie Krisen haben somit gemein, dass sie Unterschiede bloßlegen und Distanz ermöglichen.
Kritik und Krise stammen aus derselben sprachlichen Wurzel, und sie markieren Grenzen. Nur während wir in der Kritik Unterscheidungen vornehmen, werden wir in der Krise von Unterscheidungen getroffen. Krise ist vorab ein Synonym für Differenzerfahrungen. Es ändert sich etwas, und