Genderlinguistik. Helga Kotthoff. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helga Kotthoff
Издательство: Bookwire
Серия: narr studienbücher
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823301523
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elga Kotthoff / Damaris Nübling

      unter Mitarbeit von Claudia Schmidt

      Genderlinguistik

      Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht

      A. Francke Verlag Tübingen

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      © 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

      Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

      www.francke.de[email protected]

      Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

      E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

      ePub-ISBN 978-3-8233-0152-3

      Vorwort

      Kaum ein Thema löst so vehemente, oft reflexhafte Reaktionen aus wie die Genderlinguistik. Längst hat sich ein öffentlicher Disput entsponnen, der sich zwar immer wieder über ‚die Sprache‘ äußert, aber weit von der dafür zuständigen wissenschaftlichen Disziplin, der Sprachwissenschaft, entfernt ist. Dieser weitgehend uninformiert und emotional geführte Diskurs hat sich so weit verselbständigt und dabei auf vermeintliche Vorschriften oder gar „Sprechverbote“ kapriziert, dass sich die Linguistik selbst gar nicht mehr zu Wort meldet: Man wüsste nicht, wo man anzufangen hätte. Ohne linguistische Elementarkenntnisse lässt sich kaum etwas vermitteln. Deshalb dringen weder Erkenntnisse aus der Linguistik nach außen noch fragt die Öffentlichkeit, ob die Linguistik etwas dazu zu sagen hätte. Wir meinen jedoch, dass dies dringend angezeigt ist.

      Wir legen daher für alle diejenigen, die sich für die faszinierende Disziplin der Sprachwissenschaft interessieren, eine Einführung vor, die versucht, den aktuellen Wissensstand zum Komplex Sprache und Geschlecht allgemeinverständlich zu präsentieren. Manche Bereiche sind gut erforscht, andere weniger, viele auch gar nicht. Im letzten Fall müssen wir uns auf (meist) US-amerikanische Forschungen beziehen, die aufzeigen, was für das Deutsche noch zu leisten wäre. Da die Genderlinguistik (im Gegensatz zu anderen genderbezogenen Disziplinen) nie an deutschen Universitäten institutionalisiert wurde, sind gravierende Wissensdefizite zu beklagen, die die deutsche oft weit hinter die angelsächsische Genderlinguistik zurücktreten lässt. Solche Forschungslücken werden in dieser Einführung, die sich in erster Linie an die Studierenden unseres Faches wendet, benannt.

      Zur besseren Orientierung im Buch sind zentrale Begriffe und Schlagwörter durch Fettdruck hervorgehoben. Außerdem sind manche Abschnitte in Textkästen gefasst und mit Icons versehen, die unterschiedliche Funktionen haben. Es handelt sich dabei um Abschnitte,

      

die wir für besonders wichtig halten,

      

die interessante Hintergrundinformationen bieten oder unsere Ausführungen vertiefen oder

      

Beispiele darstellen.

      Dem Narr-Verlag und insbesondere Tillmann Bub danken wir für die tatkräftige und freundliche Unterstützung. Lena Späth sind wir für die kritische Lektüre aus studentischer Perspektive dankbar, Pepe Droste und dem Freiburger Forschungskolloquium für wertvolle Kommentare zu Kap. 12. Lea Sonek, Claudia Koontz, Elena Gritzner und Petra Landwehr haben aufwändige Layout-Arbeiten geleistet.

      Die einzelnen Kap. wurden wie folgt aufgeteilt: Helga Kotthoff ist Verfasserin von Kap. 2 und 11 bis 14, Damaris Nübling von Kap. 3 bis 10, Kap. 1 stammt von beiden. Autorin von Kap. 15 ist Claudia Schmidt.

      Freiburg und Mainz, im November 2018

      Helga Kotthoff, Damaris Nübling, Claudia Schmidt

      1. Wozu Genderlinguistik?

      Das Geschlecht, nicht die Religion, ist das Opium des Volkes. (Goffman 1994, 131)

      Diese Einführung ist kein feministischer Leitfaden. Sie ist auch keine Einführung in die feministische Linguistik, da sie keinen sprachpolitischen Anspruch verfolgt (hierzu Samel 2000; Pusch 1984). Als eine der wichtigsten Vertreterinnen der feministischen Linguistik schreibt Pusch (1990, 13):

      Als feministische Wissenschaft ist die feministische Systemlinguistik ‚parteilich‘, d.h., sie bewertet und kritisiert ihre Befunde, begnügt sich nicht mit der Beschreibung, sondern zielt auf Änderung des Systems in Richtung auf eine gründliche Entpatrifizierung und partielle Feminisierung, damit aus Männersprachen humane Sprachen werden.

      Diese Haltung ist legitim. Dennoch versuchen wir in dieser Einführung eine möglichst unparteiliche Position einzunehmen. Dabei thematisieren wir durchaus sprachpolitische Vorschläge, da sie den öffentlichen Diskurs bestimmen und bereits zu greifbaren Effekten in Form von Sprachwandel geführt haben. Um ein Beispiel zu nennen: Wir bewerten das IndefinitpronomenIndefinitpronomen man, obwohl es an Mann anklingt, damit etymologisch verwandt ist und maskulines Genus hat, mit Referenz auf Frauen nicht als ‚falsch‘ oder ‚inkongruent‘, auch wenn dies die feministische Sprachwissenschaft tut und das feminine Indefinitpronomen frau kreiert hat. Viele haben an dem Satz „Wie kann man seine Schwangerschaft feststellen?“ nichts auszusetzen und verwenden ihn selbstverständlich mit Bezug auf sich selbst oder auf andere Frauen. Dies gilt es festzustellen und nicht zu bewerten. Zur Wirkung feministischer Neuerungen kann man als Beispiel maskuline Formen (wie Student, jeder) anführen, die durch die Etablierung und Empfehlung femininer Formen stärker auf die männliche Referenz reduziert wurden und werden.

      Was für das Deutsche fehlt, ist eine möglichst wertungsfreie Genderlinguistik, die den Einfluss der sozialen Variablen Geschlecht auf ‚die Sprache‘ (das System) und ‚das Sprechen‘ (Sprachverwendung, Gespräche) untersucht, und, wenn ein solcher Einfluss gegeben ist, diesen (möglichst) bemisst. Dass es dabei zur Feststellung von Asymmetrien kommt und zur Bestätigung von vielem, was die feministische Linguistik bereits erforscht und beschrieben hat, bedeutet nicht, auf sprachpolitische Maßnahmen abzuzielen, so sinnvoll und berechtigt sie sein mögen (hierzu gibt es mittlerweile viel Literatur, s. jüngst von Duden „Richtig Gendern“). Natürlich haben jahrhundertelang praktizierte Geschlechterunterscheidungen, Ungleichbewertungen und Hierarchisierungen nicht nur das Sprachsystem geprägt, sie wirken auch bis heute auf unser Sprachverhalten, in unsere Interaktionen ein. Diese Einführung behandelt daher einerseits den Sprachgebrauch, wie er sich im Sprechen über und durch die Geschlechter manifestiert; die gesprächs- und medienanalytische Genderforschung wird dabei auf den neuesten Stand gebracht. Andererseits analysieren wir das Sprachsystem, das in seinen erhärteten lexikalischen und grammatischen Strukturen frühere Gespräche, Geschlechterordnungen und das Sprechen über die Geschlechter konserviert, perpetuiert und reproduziert. Seit einigen Jahrzehnten werden Unterscheidungen nach Geschlecht politisch unterbunden, Geschlecht darf z.B. bei Bewerbungen und beruflichen Zugängen (außer dem Beruf des Priesters) keine Rolle spielen (undoing gender). Auch in vielen gesellschaftlichen Bereichen verliert diese Unterscheidung an Relevanz, sie wird zunehmend zurückgewiesen. Mütter gehen immer öfter arbeiten und Väter kümmern sich zunehmend um die Kinderversorgung. Auch hier stellt sich die Frage, ob solcher gesellschaftlicher Wandel sich bereits in ‚Sprache und Gespräch‘ niedergeschlagen hat oder dies derzeit tut.

      1.1 Was ist Geschlecht?

      Geschlecht ist eine in vielen Gesellschaften praktizierte soziale Unterscheidung von Menschen, die am Körper ansetzt. Als Geschlechtszugehörigkeit wird hier das begriffen, wozu Menschen sich selbst bekennen. In den meisten Fällen entspricht ihre GeschlechtsidentitätGeschlechtsidentität (Gender) der bei der Geburt vorgenommenen und von den GenitalienGenitalien abgeleiteten Geschlechts(klassen)zuordnung (Sexus). Ist der Sexus nicht schon vorher bekannt, so lautet die erste Frage von Angehörigen