Wie meine Mutter mir mal erklärt hatte, brauchten Häuser den Atem der Menschen, damit sie nicht austrockneten und zerfielen. Verlassene Häuser sind wie verlassene Menschen – sie sterben schneller.
Wir erkundeten die Kirche. Loverboy hatte eine Vintage-Kamera aus den 60ern dabei, und das Licht in der Ruine reichte gerade eben zum Fotografieren. Ich schaute zu ihm hin und erstarrte. Seine Kamera war genau auf mich gerichtet.
Wie heißt er nochmal? überlegte ich und schwieg volle zwanzig Sekunden. Trevor, TREVOR, Trevor, er heißt Trevor … uff!
Er sagte, ich solle mich vor ein Buntglasfenster stellen, mit einem Loch in der oberen Ecke. Ihm gefiel das hindurchfallende, gebrochene Regenbogenlicht – obwohl das letztlich keine Rolle spielte, da er Schwarz-Weiß-Fotos machte. Trotzdem tat ich ihm den Gefallen, weil ich wusste, dass er die Atmosphäre einfangen wollte.
Er machte das Foto, aber ich bekam wegen der vielen morschen Bodenbretter langsam Angst und fragte, ob wir weiterkönnten.
Wir erreichten das Haus meiner Großmutter, stiegen aus und liefen hinter dem Hof noch eine halbe Meile durch den Wald. Auf einer Lichtung, die mein Vater für die Jagd geschlagen hatte, hielten wir an. Unter dem Hochsitz, den er in einem Baum errichtet hatte, befand sich der Bunker. Meine Tante hatte mir den Schlüssel vor ein paar Wochen mit der Post geschickt. Wir schlossen auf und gingen rein. Der Bunker war nicht größer als ein Geräteschuppen, und drinnen herrschte perfekte Ordnung.
Strom gab es keinen, aber das Sonnenlicht reichte gerade eben aus, um alles einigermaßen erkennen zu können. An der hinteren Wand hatte mein Vater Halterungen befestigt, an denen die Gewehre hingen. Insgesamt fünf, darunter das aus den 1920ern, mit dem eingravierten Namen meines Ur-Urgroßvaters im Schaft. Ich strich mit den Fingern über die Buchstaben. «Jody» – es sah schäbiger aus als in meiner Erinnerung, und ich drückte, etwas zu gefühlsselig, einen Kuss darauf.
Rechts unter einem Tisch entdeckte ich den alten Armeekoffer, den mein Vater als nicht ganz Zwanzigjähriger beim Militärdienst benutzt hatte. Die Mäntel waren darin. Das wusste ich einfach.
Ich öffnete den Koffer, und ganz oben lag der braungrüne Hahnentrittmantel. Er hatte ihn als Letztes hineingelegt, als hätte er gewusst, dass ich es sein würde, der ihn eines Tages fand. Der Mantel war in exzellentem Zustand – er hatte ihn extrem pfleglich behandelt. Bevor mich meine Gefühle wieder übermannen konnten, rief mir Trevor vom Ausgang her etwas zu.
«Baby, lass uns doch auf dem Rückweg von New Orleans noch mal herkommen. Wir sollten lieber weiter, es wird bald dunkel, und ich möchte endlich von den Landstraßen runter», sagte er sachlich. Ich schnappte mir den alten Jagdrucksack meines Vaters und stopfte drei Mäntel rein. Loverboy und ich nahmen vier Gewehre mit und beschlossen, die restlichen Sachen auf dem Rückweg zu holen.
Als wir über die Brücke Richtung Highway fuhren, wurde mir klar, dass mir Kalifornien fehlte und ich nie wieder an diesen Ort zurückkehren würde. Nach einer weiteren halben Stunde fragte Trevor, ob ich ihn heiraten würde. Ich sagte ja.
BOYFRIENDS
BOYFRIEND 007 / DER KELLNER
Einmal hat er meinetwegen einen Typen plattgemacht. Hat die Schwuchtel einfach k. o. geschlagen. Wir waren Anfang, Mitte zwanzig und Samuel Myers (dieser WICHSER) machte eine fiese Bemerkung über meine Figur. Mein heldenhafter Retter vergaß seine gute Kinderstube und den Kellner-Knigge (hab ich schon erwähnt, dass es in dem Vierundzwanzig-Stunden-Diner-Drecksloch passierte, wo wir beide arbeiteten?), riss sich die Schürze runter und zimmerte dem Wichser Samuel Myers eine rein. Ich war ihm was schuldig – am Valentinstag steckte ich ihm einen Fünfziger ins Tippglas und einen Zettel: DU HAST MEINETWEGEN EINEN TYPEN PLATTGEMACHT
BOYFRIEND 99,5 (%) / DER TRÄUMER
Er sagte zu mir (als er MEGA betrunken war): «Ich wollte nie ein Stern am Himmel sein. Irgendwann sterben die sowieso, und ich bin zum Sterben viel zu belanglos. Ich bin Äther oder wie das Zeug heißt. Dieses negative Nichts, in dem die Sterne rumschweben. Da ist das Olberssche Paradoxon am Werk, wenn du so willst. Der Stoff, der schon vor den Sternen da war und auch lange danach noch da sein wird. Wir sind davon umgeben, können ihn aber nicht berühren. Es ist Treibsand, glaube ich. Ich kann das genauer erklären … Ist dir schon mal aufgefallen, dass dich alles im Leben verlässt? Männer verlassen dich, dein Aussehen verlässt dich (deshalb übe ich oft, scheiße auszusehen), dein Geld verlässt dich. Das ist schon okay. ABER. Wenn du etwas mit deinen Händen erschaffst, dann kannst du es (manchmal) für immer behalten. Nehmen wir mal an, du schreibst ein Buch. Und nehmen wir mal an, es ist so gut, dass es nicht nur dich und seine schärfsten Kritiker überlebt, sondern mehrere Generationen, die nicht mal von seiner Existenz wissen. Vielleicht gibt es auf meine Frage keine Antwort, und es läuft auf das Gefühl hinaus, das ich am Anfang beschrieben hab – dein unsterbliches Buch und die Wörter darin schweben bis in alle Ewigkeit auf der Seite, segeln für immer auf demselben Meer, tänzeln und hüpfen unaufhörlich darüber hinweg, als hätten sie nichts zu befürchten. Unberührbar, unerreichbar, und trotzdem überall – kannst du dir das vorstellen?» Er lächelte, aber ich war längst eingeschlafen.
BOYFRIEND ZERO / DER MODEREDAKTEUR
Die Stille war ohrenbetäubend, und das war nicht das einzige Klischee im Raum. Der Mann hatte seine Rummachmusik seit den Neunzigern nicht verändert – bis zum Abwinken Cibo-Matto-Tapes und der ganze andere Kram aus seiner ehemaligen Hipsterzeit, den er wie Duffel Bags mit sich rumschleppte. Die Zeit, die sie zusammen verbrachten, fühlte sich an wie zwischen Sonnenuntergängen; das letzte orangerote Glühen der letzten Minute des Tages hatte sich noch nicht mit dem neuen Violett der Nacht vermischt. Der Sex hatte sich im selben Stillstand verfangen. «Hab heute keine Lust», sagten sie wie aus einem Mund und mussten beide kichern. Weil es keinen anderen Grund gab, sich dem anderen zu widersetzen, und sie sich auch nichts beweisen mussten, gingen sie ins Bett und hielten einander selbst dann noch fest, wenn das Bett vom Aufeinanderpressen ihrer Haut schweißnass und ungemütlich geworden war, und keiner von ihnen machte sich die Mühe, die Bettwäsche zu wechseln, denn so schlimm war es dann doch nicht.
BOYFRIEND #77 / DER CHEFKOCH
Er lud mich in sein Restaurant ein. Er kochte für die Kings und Queens der Kunstszene, meistens teuren Vegan-Scheiß, inspiriert von Rockmusikern aus den Neunzigern. Oft erklärte er mir meine Gefühle. Oh my god, er war alles, was ich niemals haben würde, aber als ich ihn dann hatte, wollte ich ihn nicht mehr. Als hätte man einen Whiskey haben wollen und das Glas dann minutenlang verführerisch vor sich auf dem Tresen stehen lassen. Um den Whiskey selbst ging es nicht, eher darum, die Vorfreude zu steigern. Und schon bald kippte ich ihn gläserweise runter, als würde man mich dafür bezahlen.
BOYFRIEND 2.0 / DER FEUERWEHRMANN
Er sagte, er wolle mich anzünden wie eine Zigarette – er inhalierte mich gierig, genüsslich und absolut sorglos. Ich war nur einer von vielen in seiner Schachtel, vielleicht sogar in einer ganzen Stange; ein Morgen war für ihn offenbar wie der andere, ganz gleich, wer nachts bei ihm gewesen war. Ich glaube nicht, dass er sich viel aus den Jungs machte. Seine Kettenraucherei schien im Einklang mit (im Widerspruch zu?) allem anderen zu stehen. Er war Feuerwehrmann, noch dazu groß und stark. Die Muskeln stammten aus seiner frühen Teenagerzeit. Er zeigte mir Videoclips, wie er auf dem Skateboard