«Komm bitte wieder – sofort», sagte er, als ich anrief und nach der Brille fragte.
Bald lag ich wieder in seinen Armen, diesmal war er auf Schmerztabletten. Er schob meinen Kopf nach unten. Ich bin mir sicher, dass ich ihm nachts, während eines Kokain-Wodka-Wortschwalls erklärt hatte, dass ich nicht gern Schwänze lutsche. Aber offenbar hatte er meine Meinung geändert. Ich hörte seine Stimme. Wie ein seufzender Engel. Vielleicht auch wie ein Typ auf Schmerztabletten, der einen geblasen kriegt? Ein vokal-lastiges (aber ansonsten völlig unverständliches) Stöhnen, unterbrochen nur von «jaa», «mehr» oder «ist das geil». Nach einer halben Stunde oder so haute ich ab, weil ich auf der anderen Seite der Stadt zu einer Lesung wollte.
«Kommst du danach wieder?», fragte er.
«Noch mal?» Langsam fühlte ich mich, als würde mich tatsächlich jemand brauchen.
«Ja», erwiderte er.
Ich fuhr nach Hause, spülte mir den Arsch, fuhr weiter zur Lesung und auf direktem Weg zurück zu ihm, auf die Knie, auf ihn drauf.
«Steck ihn rein», sagte er und wieder vokal-lastiges (aber völlig unverständliches) Stöhnen.
Nachdem er gekommen war, stieg ich von ihm runter und fragte, ob er Lust auf Hähnchen vom Grill hätte. «Ja. Und Whiskey», erwiderte er.
Schmerztabletten und Whiskey – sein Style gefiel mir.
«Du bist jetzt mein Freund – du musst das Essen holen.»
«Bin pleite und mag grad nicht zu Fuß gehen, außerdem ist es kalt und neblig», sagte ich und dachte, ich hätte meine erste Aufgabe als Fake-Freund erfolgreich abgewehrt.
«Nimm die blaue Patagonia-Jacke aus dem Schrank – du kannst sie behalten, wenn du willst. Meine Kreditkarte ist im Portemonnaie. Benutz sie, PIN ist fünf sechs neun acht. Hol dir mein Fahrrad aus dem Keller. Das Bianchi Pista aus Chrom … und beeil dich verdammt nochmal», sagte er lachend.
Ich machte alles so, wie er gesagt hatte, und fuhr in seiner Jacke, auf seinem Fahrrad, mit seinem Geld die Straße runter. Ich war hin und weg von dem Rad, weil ich Vintage-Bike-Junkie bin und Bianchi die Chrome-Pistas gar nicht mehr herstellt – ich glitt durch die neblige Nacht und fühlte mich wie der Silver Surfer, nur eben auf einem Fahrrad.
Zum Hähnchenladen waren es nur zehn Minuten, aber zuerst das Wichtigste: Wie viel Geld hatte der Naivling auf seinem Konto?
Ich hielt beim Geldautomaten, tippte die PIN ein, fünf sechs neun acht, und drückte auf Kontostand: $ 80.690,78. What the fuck?! Nach Abbruch der Transaktion steckte ich die Karte ein zweites Mal in den Schlitz und tippte die Zahlen nochmal ein, weil ich wissen wollte, ob ich richtig gelesen hatte – hatte ich.
Während ich zum Imbiss weiterradelte, dachte ich: Scheiße, was ARBEITET der Typ?
Eine Litanei an Fragen schoss mir durch den Kopf. Warum wohnt er in dem beschissenen Zimmer? Warum wohnt er in der beschissenen Wohnung? Wenn ich zwanzig Dollar von seinem Konto klaue, kriegt er das dann mit und ist angepisst? Hat er sich das Bein beim Skifahren in Tahoe gebrochen oder bei irgendeinem anderen Reiche-Leute-Scheiß? Und die wichtigste: Soll ich versuchen, ihn zu heiraten?
Ich konnte mich nicht erinnern, wann auf meinem Konto oder dem eines Bekannten mehr als, sagen wir, viertausend Dollar gewesen wären – und das hier war nur sein Girokonto. Wie viel mochte er auf dem Sparkonto haben?
Schnell verdrängte ich die Fragen, weil An-Geld-denken unappetitlich ist und die Rechnung zu viele Unbekannte enthielt. Man kann sich das Leben eines anderen nicht vorstellen, wenn man ihn kaum kennt, und mal ehrlich, ich kannte meinen Fake-Freund ja überhaupt nicht.
Ich kam an einem Schaufenster vorbei und nahm mein Spiegelbild wahr. Ich sah aus wie boyfriend material oder wenigstens wie so ein Arsch mit Abschluss an einem Scheiß-WASP-College an der East Coast. Doch eigentlich war ich nur ein Hochstapler, was mich allerdings auch scharf machte, weil Verbrechen sexy sind. Aber das hier war seine arschteure Vintage-Patagonia, sein arschteures Vintage-Bianchi, seine Kreditkarte. Lieber Gott, fühlte er sich jeden Tag so? Wie ein normaler, erfolgreicher Erwachsener?
Die Frau im Imbiss, die meine Bestellung entgegennahm, fragte nach meinem Ausweis, als ich seine Kreditkarte hinlegte, und ich sagte, cool wie ein Eispickel: «Ach, das ist nicht meine, sondern die von meinem Freund, er hat sich das Bein gebrochen und jetzt muss ich wirklich alles für ihn machen.» Sie blinzelte nicht mal, als sie mich unterschreiben ließ. Hatte sie mitgekriegt, wie sehr ich innerlich gestrahlt hatte, als ich von «meinem Freund» geredet hatte? Fake oder nicht, «mein Freund» zu sagen, fühlte sich irgendwie gut an.
Ich brachte ihm das Essen.
Und ich klaute keine zwanzig Dollar von seinem gut bestückten Konto.
Kurz nachdem ich wieder bei ihm war, verlor die Nacht ihre Konturen. Der Morgen war klar, aber verkatert.
Ich starrte ihn so lange an, bis er die Augen aufmachte, drei Herzschläge später fragte ich: «Heißt das, ich bin jetzt dein Freund?»
«Ja, genau», erwiderte er und fing an zu lachen.
Ich küsste ihn auf den Mund und zog mich schnell an, damit ich zu spät zur Arbeit kommen konnte.
«Ich mag gebrochene Kerle wie dich – du bist von anderen abhängig und kannst nicht weglaufen», zog ich ihn auf.
Er verdrehte die Augen, ich meine, so richtig. «Was machst du, wenn mein Bein wieder okay ist?»
«Keine Ahnung, es nochmal brechen?» Ich gab mir Mühe, ernst zu gucken.
Im selben Moment verzog sich die miese Wolke, die die Sonne verdeckt hatte, und das Licht fiel noch heller als vorher durchs Fenster. Es traf auf die Discokugel, und wieder sah ich überall funkelnde Flecken.
Meine abergläubische Seite wollte darin ein Zeichen erkennen – Dieser Typ hier wird mein neuer Freund – doch sofort sagte eine Stimme in meinem Kopf: Eher nicht.
Ich folgte meiner zweiten Eingebung und stand auf.
«Ich bin den ganzen Tag hier. Kommst du später bitte wieder?», fragte er und schaute mir fest in die Augen.
«Ja. Ich komme, wann immer du willst», sagte ich und ging.
STRICHER (ERSTER TEIL)
1
Die Schreibblockade hatte mich an den Eiern gepackt, und ich konnte sie einfach nicht abschütteln. Ich saß da und schaute zu, wie sich die Nächte in endlosen Wodkafontänen auflösten. An einem Nachmittag hatte ich dann das Gefühl, mich hätte der Blitz getroffen.
Vitamin C … ich brauche einen Liter, dachte ich.
Völlig zerschlagen war ich aufgewacht, die grelle Sonne auf dem Gesicht. Es war brutal, als wollte mich die Natur daran erinnern, was für ein schlechter Mensch ich war. In Wahrheit war ich kein schlechter Mensch – nur verkatert. Da kommen solche Gefühle schon mal hoch.
Allerdings war ich, wie ich zugeben muss, in schlechter Verfassung. Das fiel schon auf. Freunde redeten darüber. Ich war bei Jobs rausgeflogen. Das einzig Gute war, dass die meisten meiner Freunde ebenfalls Fehler machten und ich mir keine verächtliche Kritik anhören musste, trotzdem merkte ich es. Ich wusste von ihrem Geläster, das musste mir niemand erst sagen. Mein innerer Kompass schlug Alarm.
Einige Freunde waren gestorben, andere tauchten ab, weil sie Eltern wurden und wegzogen, alt und schlaff wurden und wegzogen, oder in aller Stille verrückt wurden und wegzogen – alles lief aufs Gleiche hinaus. Das Klima wurde kälter.
Ich, seit sechs Stunden zum ersten Mal nüchtern, bekam Angst. Ich musste Druck ablassen. Ich wollte einen Stricher.
Eigentlich war ich immer noch ein schöner Mann – wenigstens sagte