Eines Tages würde sein Sohn sie bekommen. Wieso war er heute eigentlich nicht hier? Der Platz zu Hollers Linken war leer. Nun, er wird sicher gleich erscheinen. Markus verpasste das monatliche Treffen der Familie fast nie.
Anton Holler musterte die Gäste an seiner Tafel. Rechts von ihm saß seine Frau Elisabeth, die aufmerksam den Tisch überprüfte, ob alles in Ordnung war. Sie war jünger als er, was man ihr deutlich ansah. Sie war nicht seine erste große Liebe gewesen, aber die glücklichste, und das hatte sich in den vielen Jahren, seit sie verheiratet waren, nicht geändert.
Seine erste Ehe war ihm wie ein Rausch vorgekommen, aber das Glück hatte nicht lange angehalten. Sie hatten sich nach zwei Jahren wieder getrennt. Aus seiner jetzigen Ehe mit Elisabeth waren drei Kinder hervorgegangen, und sie waren das Wichtigste in seinem Leben.
Neben seine Frau hatte Tim Platz genommen, der einzige Sohn seines Bruders und damit sein Neffe. Sein Bruder war vor einigen Jahren gestorben, und sie hatten seinen Sohn bei sich aufgenommen, als er noch ein Teenager war. Inzwischen war er ein breitschultriger und groß gewachsener junger Mann mit fast schwarzen Haaren und hellen wachen Augen. Er trug ein buntes Oberhemd mit offenem Kragen, ein Outfit, das Anton Holler gerade noch durchgehen ließ. Tim arbeitete in seiner Reederei in der Lagerverwaltung.
Dieses Lager im Hafen war ein Relikt aus der Vergangenheit. Es wurde im Prinzip nicht mehr gebraucht, und es gab dort nur wenige Angestellte. Doch Tim erzählte ihm immer, dass der alte Bau immer noch wichtig war, um dort bestimmte Güter der Frachtschiffe zwischenzulagern. Nun, Tim schien seine Sache gut zu machen, also ließ er ihn gewähren. Manchmal allerdings hatte er den Verdacht, dass sein Neffe die Bedeutung dieses Lagerhauses etwas übertrieb.
Anton Hollers Blick schweifte zur anderen Seite des Tisches. Dort saß seine Tochter Maria mit ihrem Ehemann. Zwischen ihnen ihr dreijähriger Sohn Erik, dessen Kopf gerade eben über die Tischkante ragte. Sie unterhielten sich mit ihrem Sprössling, dem irgendetwas nicht passte. Holler war von der Hochzeit Marias mit einem Anwalt nicht unbedingt begeistert gewesen, doch seinen einzigen Enkel liebte er abgöttisch.
Dann war da noch sein jüngster Sohn Daniel, der gerade achtzehn geworden war. Er hatte mit Mühe und Not und der Hilfe einiger Nachhilfelehrer die Mittlere Reife geschafft. Seitdem jobbte er gelegentlich in der Reederei des Vaters. Arbeit konnte man es kaum nennen. Er starrte angestrengt auf sein Smartphone, das an seiner Hand festgewachsen schien.
Anton Holler fehlte jedes Verständnis für den unwiderstehlichen Drang der jungen Leute, sich pausenlos mit einem solchen Gerät zu beschäftigen. Zu seiner Zeit hatte es so etwas zum Glück noch nicht gegeben. Wie auch immer man die Bedeutung der modernen Technik einschätzte – Daniel war sein Sorgenkind. Der Junge hatte bisher noch keine Vorliebe für irgendeinen Beruf erkennen lassen. Vielleicht musste man ihm noch Zeit lassen!
Der Platz am anderen Ende der Tafel war frei geblieben. Niemand aus der Familie hatte es je gewagt, ihn einzunehmen und sich dem Patriarchen der Familie damit genau gegenüberzusetzen.
Es klingelte!
Anton Holler sah erstaunt hoch. Wer wagte es, die Familie während dieser nahezu heiligen Handlung zu stören?
Elena, die griechische Haushaltshilfe, erschien in der Tür und blickte zum Hausherrn hinüber. „Da ist ein Herr von der Polizei, der Sie sprechen möchte.“
Anton hob die Hand. „Ich mache das schon. Alle bleiben sitzen.“
Er ging zur Tür hinaus, ließ sie aber geöffnet. In der Empfangshalle stand ein Mann in Freizeitkleidung. Er hielt ein Lederetui mit einem Ausweis hoch.
„Hauptkommissar Cornelius Brock“, stellte er sich vor.
„Ich nehme an, es geht um meinen Sohn. Was hat er ausgefressen?“
„Können wir irgendwo ungestört reden?“
Anton Holler stutzte. Ein Schatten zog über sein Gesicht. „Folgen Sie mir.“
Sie betraten das Esszimmer, und Brock ließ seinen Blick über die an einer langen Tafel Versammelten gleiten, wobei er ihre Gesichter registrierte. Er besaß ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis für Personen und würde sie von nun an jederzeit wiedererkennen. Nach wenigen Schritten bemerkte Brock eine Berührung an seinem Bein. Er sah nach unten und entdeckte einen vielleicht dreijährigen Knirps, der vor ihm stand.
„Hast du eine Schtole?“, nuschelte er.
Brock ging in die Knie, um auf Augenhöhe zu kommen. „Was soll ich haben?“
Ein jüngerer Mann war vom Tisch aufgestanden und kam dazu, wohl der Vater des Kleinen. Er grinste. „Das ist mein Sohn Erik. Er will wissen, ob Sie eine Pistole haben.“
Brock stand auf, hob seine leichte Jacke an und drehte sich um seine Achse. „Keine Schtole!“
Der Hauptkommissar trug selten seine Dienstwaffe. Sie ruhte in einem abgeschlossenen Fach seines Schreibtisches und wurde praktisch nur herausgenommen, wenn er zu einer der vorgeschriebenen Schießübungen musste. Er besaß noch eine private Waffe, die in einem kleinen Tresor in seiner Wohnung lag. Er hatte sie am Anfang seiner Laufbahn erworben, als er es noch notwendig fand, sich seinem Beruf entsprechend auszustatten. Inzwischen war er kein Freund von Schusswaffen mehr, und er hoffte, nie eine benutzen zu müssen.
Allerdings wunderte er sich, wieso der kleine Stöpsel wusste, was eine Pistole war, bevor er ihren Namen aussprechen konnte.
„Kommen Sie!“, drängte Holler und ging voran. Brock folgte ihm in ein Arbeitszimmer mit holzgetäfelten Wänden und schweren Eichenmöbeln, die aussahen, als würden sie noch zur Erstausstattung des Hauses gehören. In der Luft hing ein Geruch von Tabak.
Brock bemerkte, dass an den Wänden einige merkwürdig aussehende Waffen hingen: Bögen, eine Lanze, Keulen. Hinter der Glasfront eines schmalen Schrankes befanden sich zwei teuer aussehende Gewehre. Fein ziselierte Metallteile, poliertes Holz, eindeutig eine hervorragende Handwerksleistung.
„Das sind englische Jagdgewehre. Sie stammen von meinem Vater, der ein begeisterter Jäger war. Eine Purdey und eine Holland & Holland. Soweit ich weiß, sind das so ziemlich die teuersten Jagdwaffen, die man kaufen kann. Ich konnte der Jagd nie etwas abgewinnen und habe daher noch nie einen Schuss daraus abgegeben. Ich lasse sie nur regelmäßig bei einem Büchsenmacher warten und reinigen.“
In einer Vitrine, wie man sie aus Museen kannte, lagen Dolche von teilweise seltsamer Gestalt. Einer hatte eine blitzende Klinge in Wellenform.
Anton Holler lehnte an seinem Schreibtisch und folgte Brocks Blick. „Das ist ein malaiischer Kris“, erläuterte er. „Eine gefährliche Waffe. Das Ding daneben mit der gebogenen Klinge ist ein Gurkha Dolch aus dem neunzehnten Jahrhundert. Er wird heute noch unverändert hergestellt.“
Brock sah fragend hoch.
„In meiner Jugend bin ich einige Jahre zur See gefahren. Damals haben mich exotische und antike Waffen fasziniert, und wenn ich welche kriegen konnte, habe ich sie mitgebracht.“
„Interessantes Hobby“, murmelte Brock.
„Also, was gibt es?“, knurrte Anton Holler. „Sie sind ja nicht gekommen, um meine Waffen zu bewundern.“
„Sie sollten sich lieber setzen“, sagte Brock und ließ sich selbst in einem der englischen Ledersessel nieder. Holler folgte seinem Beispiel. „Jetzt reden Sie schon!“
Brock hasste diese Aufgabe. Seine Chefin hatte ihn ermahnt, den Hinterbliebenen eines Mordopfers die Nachricht schonend beizubringen. Wie sollte man einem Vater schonend beibringen, dass sein Sohn tot war? Eine solche Mitteilung traf immer brutal ins Herz, gleichgültig, wie sorgsam man sie überbrachte.
„Wir haben Ihren Sohn Markus in der Elbphilharmonie aufgefunden“,