Ulrike Gerold / Wolfram Hänel
HAARMANNS ERBE
Kriminalroman
© 2015 zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832 Springe
[email protected] · www.zuklampen.de
Umschlaggestaltung: HildenDesign, München
Umschlagmotiv: Timm Ulrichs: Kopf-Stein-Pflaster, Foto: Gero Brandenburg/©Wikipedia
Satz: Melanie Beckmann, design-beckmann.de
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
ISBN 978-3-86674-452-3
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.
Inhalt
Jeder Krimi ist ein Regionalkrimi - Ein Nachwort
Vorspiel
Als der Henker kommt, um mit einem Messer den Jackenkragen abzutrennen, versucht Haarmann es ein letztes Mal. »Köppen ist in Ordnung«, sagt er freundlich. »Köppen und damit fertig. Aber können wir das nicht auf dem Klagesmarkt machen? Dass mich viele Leute sehen, das wäre doch schön. Hier auf dem Hof vom Gefängnis ist ja nichts los. Da kriegt keiner was mit!«
Der Henker gibt keine Antwort. Scheint überhaupt ein schweigsamer Kerl zu sein. Kein Jüngelchen mehr. Hat schon viel gesehen. Da gibt es nichts Neues mehr für ihn. Macht nur seine Arbeit, als wäre Haarmann einer wie alle anderen. Nichts Besonderes weiter.
Das Geräusch, mit dem das Messer die Nähte durchtrennt, lässt ihn frösteln. Unwillkürlich zieht er die Schultern hoch. Der Henker packt ihn mit hartem Griff am Oberarm.
Er versteht es nicht. Er ist doch berühmt! Die Leute kennen ihn. Sie haben Angst vor ihm. Und sie reden über ihn, nicht nur in Hannover. Alle großen Zeitungen haben über ihn geschrieben.
Auf den Fotos sieht er gut aus. Mit ordentlich gekämmtem Seitenscheitel und einem forschenden Blick, als wollte er seinem Gegenüber bis in die tiefsten Abgründe der Seele schauen. Nur die Jacke spannt ein wenig vor dem Bauch. Er muss daran denken, den untersten Knopf zu schließen, wenn sie ihn zur Fallschwertmaschine führen.
Aber er will ein großes Publikum für seine Hinrichtung! Das hat er ja wohl verdient. Er hat 24 Morde gestanden, ohne der Polizei irgendwelche Schwierigkeiten zu machen. Hat bei jedem neuen Namen nur gesagt: »Ja, schreiben Sie man dazu.« Was wollen sie denn noch? Da könnten sie ihm doch wohl wirklich einen letzten Gefallen tun. Damit er den Leuten wenigstens noch einmal sagen kann, was sie hören wollen. Dass Menschenfleisch nicht aussieht wie Schweinefleisch. Oder wie Kalbfleisch. Auch nicht wie Pferdefleisch. Nee, das sieht viel schwärzer aus! Er muss es wissen, er hat ja immer die Hände voll davon gehabt.
Eine Taube flattert auf den Hof. Als sie in den Spalten und Rissen des Pflasters nach Krümeln pickt, sieht er, dass sie nur ein Bein hat. Vielleicht haben die Jungen mit Steinen nach ihr geworfen, denkt er. Auf dem Pausenhof des Kaiser-Wilhelm-Gymnasiums auf der anderen Seite der Mauer. Es ist lange her, dass er dort vor dem Tor gestanden und sie heimlich beobachtet hat. Die bunten Mützen, die sie trugen, fand er schön. Er weiß nicht, warum er sich ausgerechnet jetzt daran erinnert.
Der Henker stößt ihn vorwärts. Dann war es das also, denkt er, als er die Stufen zu dem hölzernen Gerüst hinaufsteigt. Kein großes Publikum. Eine Hinrichtung wie jede andere auch. Gerade mal fünf Männer kann er zählen, die gekommen sind, um zu sehen, wie sein Kopf gleich für immer in die bereitgestellte Kiste fallen wird. Und ein Fotograf. Wenigstens das.
Auf der Mauerecke wächst eine kleine Birke, die in den Fugen zwischen dem roten Klinker seltsamerweise Wurzeln geschlagen hat. Die Taube hüpft unbeholfen davon. Vom Pausenhof schallt schrilles Knabenlachen herüber. Eine Straßenbahn rattert vorbei. Das ist die Linie 7. Die von Buchholz kommt. Ein Lastwagen spuckt Qualmwolken über die Mauer. Vielleicht zieht jemand um. Er selber zieht ja auch gleich um. Aber er braucht keinen Laster dazu.
Der Knopf! Er muss den Knopf schließen. Seine Hände fummeln ungeschickt. Der Griff des Henkers zwingt ihn in die Knie.
Aber ohne einen letzten Satz kann er nicht abtreten. Nicht einfach so. Das ist er sich und seinem Publikum schuldig. Auch wenn es viel zu wenige sind. Er räuspert sich, damit sie auch wirklich hinhören …
»Rutsch, fällt das Messer runter, wutsch, bin ich weg!«
Gut so. Daran werden sie sich auch nach seinem Tod noch erinnern. Ebenso wie an die Knochen und Schädel an den Ufern der Leine.
Als er das Beil kommen hört, zwingt er sich, die Augen offen zu halten.
Für einen Moment zweifelt der Henker hinterher daran, ob er es sich nur eingebildet hat oder ob es wirklich so war. Doch, er ist sich sicher! Er hat es ganz deutlich gehört. Gleich darauf war dann der Kopf mit den weit aufgerissenen Augen dumpf in der Kiste aufgeschlagen – und er hatte sich beeilen müssen, um den Rumpf zu Boden zu drücken, der sich kopflos aufrichten wollte wie ein Hahn, der noch einmal durch die Scheune flattert, während ihm das Blut aus dem Stumpf des Halses schießt. Aber das kannte er, das waren nur die Muskeln, die sich in einem letzten Aufbegehren zusammenzogen. Das andere war schlimmer. Diese beiden Worte, die Haarmann noch hervorgestoßen hatte, kurz bevor das blanke Beil schmatzend auf den ungeschützten Nacken traf: »Auf Wiedersehen!«
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