Vesna Tomas ist christliche psychologische Lebensberaterin (de‘ignis), Diplom-Sozialpädagogin und Traumatherapeutin. Sie hat zwei erwachsene Kinder und lebt in der Schweiz.
„Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören auf meine Stimme. Ich kenne sie und sie folgen mir.“
Jesus Christus
Johannesevangelium 10,11+27
INHALT
7 Das Labyrinth unter der Erde
PROLOG
Regungslos, fast wie aus Stein, saßen die beiden auf dem Bock des kleinen Einachsers. Der hölzerne Marktkarren war beladen mit Körben, Ledertaschen und Wolldecken. Das Gesicht des Mannes war von den vielen Menschen, die sich an diesem frühen Sommermorgen um das Fuhrwerk versammelt hatten, abgewandt; seine braunen, mandelförmigen Augen hielt er starr auf den vor ihnen liegenden holprigen Weg gerichtet. Er schien angespannt, verzog aber keine Miene. Seine glatten Haare waren schulterlang und glänzten schwarz in der Sonne. Er war jung, kräftig und hatte breite Schultern. Seine Hosen und sein Hemd waren aus Jute.
Die große schlanke Frau hatte etwas Stolzes an sich, so wie sie da kerzengerade neben ihm saß. Ihr schwarzes, dickes Haar reichte hinab bis zur ihrer Taille. Auch sie trug ein Kleid aus Jutestoff, das über ihren Knöcheln endete, und einen Umhang aus Schafwolle. An den Füßen trug sie, so wie er, Ledersandalen. Sie war noch sehr jung. In ihren braunen, großen Augen fand sich ein gesprenkeltes Grün. Ihre Wangenknochen waren hoch, ihre Nase ausdrucksstark und sie hatte schmale Lippen. Auch sie vermied es, den Menschen in die Augen zu sehen. Sie wirkte noch regungsloser, noch distanzierter als der Mann. Etwas Mysteriöses lag über den beiden.
Der Ochse, der vor ihren Wagen gespannt war und auf dessen Schultern ein schweres, gepolstertes Joch ruhte, scharrte unruhig mit dem Vorderhuf. Der Mann fasste die Zügel fest mit seiner rechten Hand, während seine linke eine Hand seiner Frau hielt. Rings um den Dorfplatz standen kleine Hütten aus Lehm, dahinter begann gleich der Wald. Männer- und Frauenstimmen hallten über den Platz, die Leute redeten durcheinander. Sie schienen weit weg zu sein, denn nichts von dem, was sie sagten, war zu verstehen und doch standen sie ganz nah. Alle waren in Aufruhr. Das Einzige, was wirklich zu hören war, war ein Weinen. Es kam aus der Nähe des Karrens. Es waren Kinder.
Die Leute deuteten mit ihren Köpfen in Richtung des Fuhrwerks und ihre mitleidigen Blicke fielen nun auf zwei kleine Mädchen in langen Gewändern. Sie schienen nicht älter als sechs Jahre zu sein, hielten sich an den Händen und weinten. Eine ältere Frau mit einem bunten Kopftuch stand neben den Mädchen. Auf ihrem Arm hielt sie einen kleinen Jungen, der nicht älter als ein Jahr aussah und ebenfalls weinte, wahrscheinlich aufgrund der Aufregung und Anspannung, die in der Luft lagen.
Auch ein etwa dreijähriges Mädchen stand in der Nähe. Die Blicke der Menschen machten ihm Angst. Es sah zu dem Mann und der Frau auf dem Wagen. Es wollte ihnen etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus.
Warum sagten die beiden nichts?
Eine Kälte umschloss das Herz des Mädchens und alles in ihm verkrampfte sich. Es schien zu ahnen, dass etwas Schreckliches passieren würde, doch mit seinen drei Jahren konnte es nicht begreifen, was vor sich ging.
Der Mann und die schöne Frau neben ihm blickten beide weiterhin starr nach vorn auf den holprigen Weg und schwiegen. Dann gab der Mann dem Ochsen einen Schlag mit den