Daniel Weißbrodt
Regensburg am Schwarzen Meer
2 400 Kilometer auf der Donau
Engelsdorfer Verlag
Impressum
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© 2013, Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany, EU
Fotos: www.danielweissbrodt.de/lesen
Lektorat: Anna Kuschnarowa
Umschlaggestaltung, Karten, Satz und Layout: Michael Kewitsch
Autorenfoto: Anke Duensing
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013
ISBN 9783954889006
Inhaltsverzeichnis
Schreibweisen, Transliteration und Aussprache 2008
Sommer 2008
EIN MIETSHAUS IM LEIPZIGER WESTEN, vier Stockwerke hoch und gebaut in den 1880er Jahren, Gründerzeit, Backsteinziegel und Stuck. Hinter dem Haus ein gepflasterter Hof mit ein paar Blumenkästen und einer Bank, drei Garagen und eine ehemalige Autowerkstatt.
Die Treppe zum Boden über der Werkstatt ist steil und das Geländer verbogen, die Stufen sind verrostet und die Tür ist nur angelehnt. Unter dem schrägen Dach riecht es nach Holz und nach Öl, Staub flimmert im Licht, das durch die Ritzen zwischen den Ziegeln fällt, und auf einem Regal verrosten Schraubenschlüssel und ein Hammer unter einer Staubschicht.
Hinten im Halbdunkel liegt auf grauen, alten Bohlen neben einem zerbrochenen Stuhl und einem rostigen Eimer noch immer das Boot. Es ist ein Faltboot, viereinhalb Meter lang und achtzig Zentimeter breit, mit grauem Gummiboden und dunkelblauem Verdeck, mit hölzernen Leisten und Spanten, und auch das Paddel ist noch da. Auf dem Kielbrett ist ein kleines Schild angebracht, auf dem steht »VEB Mathias-Thesen-Werft, Deutsche Demokratische Republik, 1984«, und auf dem Verdeck ein Aufnäher, »Kolibri IV«. Es hat zwei Sitze aus Sperrholz und ein kleines Ruder aus Aluminiumblech, es ist verstaubt und der Stoff ist mit einigen, schwarzen Stockflecken gesprenkelt, aber es scheint intakt zu sein und das hölzerne Gerüst ist honigfarben und sieht stabil aus.
Das Boot gehörte einer Frau, die schon seit ein paar Jahren nicht mehr im Haus wohnt. Sie war von unbestimmbarem Alter und hockte oft stundenlang auf dem Hof, mit Kreide schrieb sie in Schönschrift seltsame Botschaften auf das Pflaster, sie ordnete Zweige und Kiesel zu Mustern, murmelte unverständliche Sätze und sah mich und die anderen Mieter mit bösen Blicken an.
Irgendwann hatte es gebrannt in ihrer Wohnung, aus den Fenstern kam schwarzer Rauch und ein Feuerlöschzug stand vor dem Haus. Danach war die Frau verschwunden, niemand weiß wohin, wir haben sie nie wieder gesehen und nichts mehr von ihr gehört.
AM ABEND SITZE ICH IM SESSEL, vor mir ein Glas Rotwein, und überlege.
Seit Jahren liegt das Boot auf dem Boden und die Frau wird wohl kaum wiederkommen, um es abzuholen. Und selbst wenn, dann kann ich es mir ja trotzdem einfach mal für einen Sommer ausleihen, denke ich, sie wird schon nichts dagegen haben, und ich nehme den Atlas aus dem Bücherregal.
Mit dem Boot möchte ich also fahren, aber wo oder wohin?
Es ist nicht weit bis zur Elbe, aber das Stückchen Fluss von Torgau bis Hamburg sieht ganz klein und kurz aus auf der Europakarte und ich suche weiter. Die meisten deutschen und mitteleuropäischen Flüsse nehmen den Weg nach Norden, in die Ostsee oder in die Nordsee. Rhein und Weser, Oder und Wisła.
Ich suche weiter.
Die Donau fließt nach Südosten und an ihr – mit 2 857 Kilometern ist sie der zweitlängste Strom Europas – liegen von Deutschland bis zur Ukraine zehn Länder. Kein Fluss auf der Welt hat mehr Anrainerstaaten, alle paar hundert Kilometer kommt eine neue Grenze, ein neues Land, und das, denke ich mit dem Atlas auf den Knien, das könnte interessant werden.
Es ist das gleiche Wasser, an dessen Ufern die Menschen in Regensburg und in Wien, in Budapest und in Belgrad, in Ruse und in Galaţi leben, aber wie leben sie? Verbindet sie der Fluss, macht er sie zu Nachbarn oder sind die Sprach- und Landesgrenzen stärker, und was wissen und denken sie überhaupt voneinander?
Mit dem Faltboot auf der Donau, das klingt gut, denke ich, auch wenn ich kein geübter Sportler bin und genaugenommen bin ich überhaupt kein Sportler, ich arbeite im Archiv, ich sitze den ganzen Tag am Schreibtisch und wenn ich einmal in der Woche einer Straßenbahn hinterherrenne, dann ist mein durchschnittliches Pensum an Bewegung auch schon erreicht, doch die Strömung wird mich mit sich tragen wie ein Blatt. Ich kann paddeln und ich kann mich treiben lassen, ganz wie ich will, denn der Fluss fließt schließlich ohnehin.
Verfahren kann ich mich wohl kaum, aber ich bestelle mir trotzdem einen Wasserwanderführer vom Deutschen Kanuverband, »Die Donau und ihre Nebenflüsse«, und stelle mir vor, wie es wohl sein wird in Österreich und in der Slowakei, in Ungarn, Kroatien und Serbien, und im Wikipedia-Artikel »Donauschifffahrt« lese ich: »Die gesamte Donau ist inzwischen selbst für unerfahrene Bootsführer leicht befahrbar. Was noch fehlt, sind ausreichend Marinas«, aber einen Platz zum Anlegen, den werde ich schon irgendwo finden.
Bei Regensburg erreicht die Donau ihren nördlichsten Punkt und die Stadt liegt nur etwas mehr als dreihundert Kilometer südlich von Leipzig. Von Regensburg bis Belgrad sind es 1 210 Kilometer und wenn ich am Tag sechzig Kilometer fahre, dann dürfte das in drei Wochen eigentlich zu schaffen sein, denke ich, wenn die Bootshaut überhaupt noch dicht ist und das Boot fahrtauglich.
EIN PAAR TAGE DARAUF trage ich mit meinem Nachbarn das Boot zum nahen Kanal, wir legen es ins Wasser und es schwimmt. Ich steige ein und paddle ein Stück. Das Boot trägt mich und