Jimi Hendrix. Charles R Cross. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles R Cross
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783854454403
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unversehrtes, tellergroßes, rundes Spiegelstück angebracht war. „Das“, sagte Al Hendrix, als er das an Salvador Dalí erinnernde Kunstwerk aus der Ecke zog, „war Jimis ‚Room Full Of Mirrors‘.“

      „Room Full Of Mirrors“ ist der Titel eines Songs, den Hendrix 1968 zu schreiben begann. Er notierte mehrere frühe Textentwürfe zu der Melodie und nahm verschiedene Fassungen davon auf. Zu Jimis Lebzeiten wurde der Song nie offiziell veröffentlicht, aber Hendrix dachte daran, ihn auf sein viertes Studioalbum zu nehmen. Wie dieser Song zeigt, besaß Jimi ein außergewöhnliches Maß an Selbsterkenntnis und eine fast unheimliche Fähigkeit, emotionale Wahrheiten in Musik auszudrücken. Obwohl das Publikum bei Hendrix-Konzerten seine theatralischen Hits wie „Purple Haze“ forderte, zog es Jimi privat eher zu nachdenklicheren, stilleren Songs wie „Room Full Of Mirrors“ oder den Bluesstandards, mit denen er aufgewachsen war.

      Der Song „Room Full Of Mirrors“ erzählt die Geschichte eines Mannes, der in einer selbstreflexiven Welt gefangen ist, die er als so überwältigend empfindet, dass sie ihn bis in seine Träume hinein verfolgt. Er befreit sich, indem er die Spiegel zerschlägt, verletzt sich dabei allerdings und wendet sich an einen „Engel“, der ihm die Freiheit schenken kann. Hält man den greifbaren Ausdruck dieser Vorstellung in Händen – den zerbrochenen Spiegel, den Jimis Vater im Keller aufbewahrt –, denkt man unwillkürlich an die Komplexität des Mannes, der diesen Song schrieb, und an den Tag, an dem Jimi Hendrix sein Spiegelbild in jenen fünfzig Scherben betrachtete. „All I could see was me“, sang er in dem Song, „alles, was ich sehen konnte, war ich selbst.“

      Charles R. Cross

      Seattle, Washington, April 2005

      Prolog

      Room Full of Mirrors

      Liverpool, England

      9. April 1967

      „I used to live in a room full of mirrors, all I could see was me.“

      — Jimi Hendrix, „Room Full Of Mirrors“

      „Tut mir leid, Freunde, solche wie euch bedienen wir hier nicht. Ich hab auch meine Vorschriften.“

      Die Worte entsprangen dem Mund eines brummigen Seebären mit zittrigen Händen. Noch während er die Zurückweisung aussprach, wandte er sich ab und zapfte für einen anderen Gast ein Bier. Er hatte zunächst gar nicht richtig hingesehen – nicht mehr als einen kurzen Kennerblick auf die beiden Männer geworfen, die nun vor ihm standen und keinen blassen Schimmer hatten, weshalb sie nicht bedient wurden. Es war ausgesprochen merkwürdig, denn es handelte sich um einen jener typischen englischen Pubs, in denen jeder bedient wird: Männer, die längst zu betrunken sind, um noch gerade zu stehen, Kinder und sogar entflohene Sträflinge in Handschellen, sofern es ihnen gelingt, Bargeld über den Tresen zu schieben.

      Einer der zurückgewiesenen Männer war der einundzwanzigjährige Noel Redding, Bassist der Jimi Hendrix Experience. Noel war in Folkestone geboren, einer Stadt im Südosten Englands, und kannte Pubs und deren schlecht gelaunte Wirte bereits sein Leben lang. Noch nie war er weggeschickt worden, wenn er ein Getränk bestellen wollte, höchstens nach der Sperrstunde. Aber noch wurde nicht geschlossen, und Redding konnte sich nicht vorstellen, was den Barmann veranlasst haben mochte, so zu reagieren. „Ich hab ernsthaft überlegt“, erinnert sich Noel Jahre später, „ob der Kerl vielleicht unsere Single ‚Hey Joe‘ scheiße fand.“

      Sowohl Noel als auch sein Begleiter, Jimi Hendrix, hatten lilafarbene Schals um die Hälse geschlungen und trugen stolz zerfranste Kraushaarfrisuren, die sich wie Heiligenscheine um ihre Köpfe legten. Noel hatte grellviolette Schlaghosen an, während Jimis eng anliegende Beinkleider aus weinrotem Samt gefertigt waren. Jimi trug dazu ein Piratenhemd mit Rüschen, das sich auf der Brust üppig bauschte, und über der Jacke ein schwarzes Cape. Die einzigen Leute, die sich so kleideten, waren Schauspieler aus einem Theaterstück des achtzehnten Jahrhunderts – oder eben Rockstars. Und dennoch hatten Noel und Jimi hunderte von Pubs in ähnlich abgefahrener Aufmachung besucht und waren nicht abgewiesen worden. In London erzielten sie damit eher den gegenteiligen Effekt: Hatte man sie erst einmal erkannt, wurden sie wie Mitglieder der königlichen Familie behandelt und verehrt.

      England war ganz verschossen in den damals vierundzwanzigjährigen Jimi. In den sechs Monaten, die er in Großbritannien gelebt hatte, war er in vielen Pubs Ehrengast gewesen, und sogar der von ihm bewunderte Paul McCartney hatte ihm einmal ein Bier ausgegeben. Legendäre Musiker, die er seit Langem anbetete – Eric Clapton, Pete Townshend und Brian Jones von den Rolling ­Stones –, nahmen ihn als Gleichgesinnten und Freund in ihrer Mitte auf. Die Presse pries ihn als aufstrebenden Rockstar und verlieh ihm Titel wie „Der wilde Mann von Borneo“ und „Der schwarze Elvis“. Zwischen zwei Sets schnell ein Bier zu trinken, was Noel und er gerade vorhatten, war nur dann ein Problem, wenn Jimi von seinen zahlreichen Fans umschwärmt wurde. Weil sie eben jenen Fans aus dem Weg gehen wollten, die Jimi in der Regel sexuell unwiderstehlich fanden, hatten sich Noel und er in den eher abseits gelegenen Pub verzogen. Sie befanden sich in Liverpool, wo man natürlich vor allem für die Beatles eingenommen war, aber nicht bedient zu werden wäre für einen aufsteigenden Superstar überall in Großbritannien eine überraschende Erfahrung gewesen. „Es war ein typischer englischer Pub“, erinnert sich Noel. „Voll mit Werft­arbeitern, Ladenbesitzern und solchen Leuten.“

      Wie er Noel später anvertraute, war Jimis erster Gedanke, dass er wegen seiner Hautfarbe diskriminiert wurde. Als Afroamerikaner, der einen Teil seines Lebens im Süden der Vereinigten Staaten verbracht hatte, wusste Jimi, wie es ist, Dienstleistungen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit verweigert zu bekommen. Von dort kannte er Rassendiskriminierung, Trinkbrunnen mit der Aufschrift „Nur für Weiße“ und andere Demütigungen. Einmal waren die Fens­terscheiben seines Wohnhauses in Nashville, Tennessee, zerschossen worden, nur weil er schwarz war. Er war drei beinharte Jahre lang auf dem Chitlin’ Circuit aufgetreten – einer Reihe ganz bestimmter Kaschemmen, Eiskeller und Bars, in denen vor hauptsächlich afroamerikanischem Publikum Rhythm & Blues gespielt wurde. Allein um zu diesen Auftrittsorten zu gelangen, mussten umherreisende schwarze Musiker sorgfältig im Voraus planen, wo sie essen oder eine Toilette benutzen wollten, da diese schlichten Dinge in bestimmten Teilen des weißen Amerika Schwarzen vorenthalten wurden. Die Soullegende Solomon Burke war mit Jimi im Bus auf dem Chitlin’ Circuit unterwegs und erinnert sich, wie die Band am einzigen Restaurant einer ländlichen Kleinstadt Halt machte. Da sie wussten, dass Afroamerikaner in dem Restaurant nicht bedient wurden, schickten sie den weißen Bassisten hinein, damit er für alle Mahlzeiten zum Mitnehmen besorgte. Der weiße Musiker war nur noch ungefähr drei Meter vom Bus entfernt, als ihm eines der Essenspäckchen aus der Hand zu rutschen drohte und Jimi nach draußen eilte, um ihm zu helfen. „Die weißen Geschäftsführer des Ladens kapierten, für wen das Essen bestimmt war“, erinnert sich Burke. Hendrix und Burke sahen entsetzt, wie die Männer Äxte schwingend hinter dem Tresen hervorkamen. „Sie haben das ganze Essen genommen und auf den Boden geworfen“, erzählt Burke. „Wir haben uns nicht gewehrt, weil wir wussten, dass sie uns umgebracht hätten, und sie wären damit durchgekommen, denn wahrscheinlich war der Sheriff sowieso auf ihrer Seite.“

      In England war Jimi von rassistischer Diskriminierung verschont geblieben; er hatte festgestellt, dass Klasse und Akzent die entscheidenden Grad­messer der britischen Gesellschaft darstellten. In den Staaten hatte seine ethnische Zugehörigkeit seine Karriere behindert, besonders, weil er über die akzeptierten Grenzen des Rock und R & B hinausging. In England verliehen ihm seine Hautfarbe und sein amerikanischer Akzent jedoch eher etwas Exotisches. Als afroamerikanischer Yankee war er ein unverwechselbarer Außenseiter und wurde deshalb verehrt. „Er war der erste amerikanische Schwarze, den ich je kennen gelernt habe“, erinnert sich Noel Redding. „Das allein machte ihn schon interessant.“ Sting, der 1967 als Teenager die Tournee der Jimi ­Hendrix Experience erlebt hatte, schrieb später, er habe bei dem Konzert „zum ersten Mal einen Schwarzen gesehen“.

      Jimis zweiter Impuls an jenem Tag in dem Liverpooler Pub war, an seiner Aufmachung zu zweifeln. Er trug eine antike Militärjacke, ein Relikt aus den glorreichen Zeiten des britischen Empire. Er hatte die üppig verzierte Jacke auf einem Londoner Flohmarkt gekauft: Auf der Brust glänzten dreiundsechzig