Kennen wir uns?. Silke Weyergraf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Silke Weyergraf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783942672467
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war ihr die Sache etwas mulmig und über Funk kontaktierte sie den diensthabenden Arzt. Sie war gerade dabei, die hoch dosierte Tablette aus der Packung zu drücken, als das Diensttelefon klingelte. Doktor Behler meldete sich aus einer Chefarztbesprechung. Nachdem Mona ihm kurz die Situation geschildert hatte, bestätigte Dr. Behler die Gabe des Schmerzmittels. Von ärztlicher Seite abgesichert, kehrte sie mit der Tablette zurück ins Einzelzimmer der sichtbar leidenden Frau. Etwas unsicher stand die hübsche Besucherin neben dem Bett und hielt die erschöpfte Hand von Frau Hilgers.

      Jenny hatte ihre Hände vom Gesicht gelöst und war dankbar, einen Grund für ihre desolate Verfassung genannt bekommen zu haben. Wirkliche Schmerzen kannte sie anders, doch fühlte sich ihr Kopf nach der Gedankenverknotung und dem Gefühlsausbruch dröhnend leer an. Sie wusste, dass eine Schmerztablette ihren Zustand ebenso wenig verändern würde wie die Einnahme eines Stück Apfels, doch wollte sie unter keinen Umständen erklären, wieso sie tränenüberströmt im Bett lag. Nachher würde ihr noch ein psychischer Schaden unterstellt. Und wer wusste schon, ob die Tablette ihr nicht doch Erleichterung brachte. Schwester Mona wies sie an, den Kopf etwas zu heben, steckte ihr die Tablette zwischen die Lippen und reichte ihr ein Glas Wasser, an dem Jenny unbeholfen nippte. Bereits das Schlucken der Tablette belebte Jennys Körper und auch ihr Geist freute sich über die Ablenkung.

      Thea atmete innerlich auf und versprach sich zeitnahe Besserung des beängstigenden Zustandes ihrer Freundin. Schwester Mona beobachtete kurz die sich lösenden Gesichtszüge ihrer Patientin und wies Thea an, sich bei Verschlechterung des Zustandes bei ihr zu melden. Der Vorfall löste in den beiden so unterschiedlichen Frauen eine gewisse Achtung aus. Thea mochte keine Frauen mit Piercings und beim ersten Blick in Monas Gesicht wusste sie, dass diese Frau, deren Augenbraue ein silberner Ring zierte, nur auf Konfrontation aus war. Solche Menschen kannte sie aus der Schule zur Genüge. Die Grundschule, in der sie mit reduzierter Stundenzahl arbeitete, lag in einem sozial stark durchmischten Wohnviertel Münsters. Eltern mit Tattoos und Piercing gab es hier viele. Ständig fühlten sie sich benachteiligt und auf einer sachlichen Ebene war keine Unterhaltung möglich. Schwester Mona war auch so eine, aber immerhin hatte sie auf die Problemsituation professionell reagiert.

      Thea richtete ihre Aufmerksamkeit auf Jenny, die wesentlich entspannter als noch vor wenigen Minuten mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag. Eine Weile beobachtete sie ihre Freundin und stellte sich innerlich die Fragen, die sie sich laut zu fragen nicht traute. Was war an dem regnerischen Freitagabend vor einer Woche wirklich passiert? Jenny war eine sichere und vorsichtige Autofahrerin und es passte nicht zu ihr, sich ohne Absprachen auf den einstündigen Weg zu ihr nach Münster zu machen. Nick, Jennys Verlobter, war nicht zu erreichen, aber Thea hatte nie viel Kontakt zu ihm gehabt. Vielleicht lag es daran, dass Theas Ehemann Achim, der als Internist in einer Praxis in Münster arbeitete, keinen besonders guten Draht zu Nick hatte. Zum Ende ihrer gemeinsamen Studienzeit in Köln, Nick hatte dort Architektur studiert, waren sie im Sommer oft zu viert in den Urlaub gefahren. Während sie mit Jenny und Achim gerne aktiv war oder die Gegend und Kultur ihrer Reiseziele erkundete, verbrachte Nick den Urlaub am liebsten am Strand oder an der Hotelbar. Unterschwellig lagen diese ungleichen Bedürfnisse in jeglicher Kommunikation zwischen Jenny und Nick. Einer von beiden schien immer unzufrieden mit den Wünschen und Forderungen des anderen oder fühlte sich missverstanden. Achim wurden die kleinen Machtkämpfe der beiden schnell zu anstrengend, sodass man nach vier gemeinsam verbrachten Reisen Abstand davon nahm, die Urlaubstage miteinander zu gestalten. Thea fand Nick soweit akzeptabel. Er sah vor allem gut aus und war gesellig und sportlich. Nicht sonderlich tiefgründig, aber irgendwie nett und, trotz nicht zu stillender Partylust, auch häuslich. Wie oft hatte Thea am Telefon von diversen Diskussionen gehört, die sich um das Thema Kinderwunsch drehten? Selbst als ihre nun bereits siebenjährige Tochter Klara geboren wurde (der Anblick eines Babys konnte für manch gewollt Kinderlose durchaus Auslöser für erhöhten Zeugungswillen darstellen), konnte Nick seine Freundin nicht von den Vorteilen der Gründung einer richtigen Familie überzeugen. Jenny argumentierte immer, dass sie als Lehrerin bereits einen großen Beitrag zur Kinderfreundlichkeit des Landes beitrug und ihre Nerven einfach nicht für ein eigenes Kind angelegt worden waren. Sie machte auch keinen Hehl daraus, dass sie froh über den Lebensstandard war, für den sie hart gearbeitet hatte. Diesen wollte sie unter keinen Umständen aufgeben. Ein Kind würde doch alles verändern und vor allem würde es alles durcheinanderbringen. So meinte jedenfalls Jenny.

      Auch ohne Kind war nun alles durcheinandergebracht. Von Jennys Auto waren nur noch die Einzelteile auf dem Schrottplatz übrig geblieben und die angedachte Hochzeit schien annulliert. Jennys Eltern hatten erzählt, dass sie mit Nick telefoniert hatten, als in der Wohnung nach dem Unfall niemand zu erreichen gewesen war. Er war von der Nachricht, dass Jenny schwer verletzt war, schockiert gewesen, doch hatte er einen Besuch auf der Intensivstation abgelehnt. Er ließ anklingen, Jenny am Abend des Unfalls von seinen Trennungsabsichten berichtet zu haben. Er mache sich zwar Vorwürfe, aber seine Entscheidung sei klar.

      „Was für ein Idiot“, murmelte Thea leise bei dem Gedanken, dass man die Frau, die man heiraten wollte, noch nicht einmal auf der Intensivstation besuchte.

      Jenny öffnete die Augen und blickte Thea direkt an. Thea errötete leicht, denn die Worte waren ihr unbewusst herausgerutscht.

      „Wen meinst du?“, fragte Jenny in fast beiläufigem Ton.

      „Ach …“, Thea druckste und suchte nach einer Rechtfertigung. „Ich meinte die Schwester gerade. Die war ja nicht wirklich zuvorkommend, oder?“

      Jenny schloss mit einem erleichterten Seufzer die Augen und erwiderte: „Ach, Mona ist schon in Ordnung.“ Mit einem zufriedenen Lächeln sagte sie noch: „Pfleger Andreas auf der Intensivstation war ein richtiger Schatz.“

      Um die unangenehme Situation aufzulösen, berichtete Thea Jenny ungefragt von einigen Erlebnissen mit Schülern ihrer Grundschule. Zudem erzählte sie von den Entwicklungsfortschritten ihrer Tochter Klara und teuren Anschaffungen für ihre neue Eigentumswohnung. Ihre Fragen rund um den Unfall gingen Thea aber nicht aus dem Kopf. Sie passte einen geeigneten Moment ab, in dem Jenny entspannt den Berichten lauschte und die Tablette bereits wundervolle Wirkung erzielt hatte. Wie beiläufig fragte sie: „War Nick eigentlich schon da?“

      Jennys Gesichtsmuskeln zogen sich blitzartig zusammen und schwungvoll drehte sie sich auf die linke Seite. Demonstrativ streckte sie Thea ihr mit einem Schlafanzug bedecktes Hinterteil entgegen und schwieg.

      Beschwichtigend sagte Thea: „Ich weiß, dass du es schwer hast, Jenny. Aber magst du nicht erzählen, was vor einer Woche passiert ist?“

      „Ich hatte einen Unfall, weil mir ein verdammtes Reh über den Weg gelaufen ist. Sonst nichts.“ Fast patzig wirkte Jennys Antwort und da Thea keinen Ton von sich gab, sagte Jenny noch: „Und Nick ist für mich gestorben. Mehr möchte ich darüber jetzt nicht sagen.“

      Thea war erleichtert über das „jetzt“. Jetzt wollte Jenny nicht darüber sprechen, aber hoffentlich bei einem der nächsten Besuche. Thea spürte, dass es besser war, den Besuch zu beenden, denn Jenny war zu keinem Gespräch mehr bereit. Immerhin konnte sich Thea davon überzeugen, dass sich ihre Freundin auf dem Weg der Besserung befand.

      „Ich rufe dich morgen an. Vielleicht fühlst du dich dann schon etwas stärker.“

      Thea verabschiedete sich von Jenny mit einem Streicheln ihres Hinterkopfes und verließ, bedacht darauf, mit ihren Absatzschuhen nicht zu laute Geräusche zu produzieren, das Krankenzimmer.

      Die Abenddämmerung eines späten Novembertages legte sich über die Zimmer der chirurgischen Station des Universitätsklinikums und hier und da wurden die ersten Lichter angemacht. Die aufsteigende Dunkelheit und das schwache Licht passten zu Jennys Gefühlen. Es gab nichts, was ihr Gemüt im Moment aufheitern konnte. Jenny fror und fühlte sich einsam. Selbst bei ihrer langjährigen Freundin Thea war sie sich der Solidarität nicht mehr sicher. Konnte sie überhaupt noch einem Menschen vertrauen? Konnte Thea überhaupt etwas von dem, was Jenny durchmachte, verstehen oder nachfühlen? In diesem Moment weilte Thea bereits wieder in der wohligen Wärme ihres trauten Heimes, einer modernen und gehoben ausgestatteten Eigentumswohnung in Münster Gievenbeck. Jennys Ziel, als sie sich vor einer Woche nach der tragischen letzten Zusammenkunft mit Nick und Marla