Kennen wir uns?. Silke Weyergraf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Silke Weyergraf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783942672467
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wie ein Puzzle zusammensetzte, verarbeitet. Ihr Körper zitterte und krampfhaft versuchte sie, gegen aufsteigende Tränen anzukämpfen. Es gelang ihr nicht. Alle Muskeln anspannend, drehte sie sich zusammengekrümmt auf die Seite und weinte. Sie weinte leise in sich hinein und spürte alle Qualen dieser Welt auf ihren Schultern. Wieso ihre beste Freundin? Jenny hatte ihr vertraut. Nun verschwanden alle miteinander verbrachten Stunden mit einer Klospülung in der Tiefe der Abwasserkanalisation. Es stank. Alles stank und Ekel durchfuhr den sich vor Verzweiflung schüttelnden Körper.

      Marla. Seit der zweiten Schulklasse hatte Jenny Marla ins Herz geschlossen. Dieses schon immer eigenwillige, kreative und etwas chaotische Mädchen. Sie erinnerte sich genau, wie Marla an ihrem ersten Schultag in der neuen Schule neben der Grundschullehrerin gestanden hatte. Sie war aus Hamburg ins fremde Ruhrgebiet gekommen. Ihre Mutter hatte als Schauspielerin in Dortmund eine Anstellung im Theater angeboten bekommen. Forsch, dem neugierigen Blick der neuen Mitschüler standhaltend, hatte sie ohne Hemmungen der Klasse von ihrem Umzug erzählt. An diesem ersten Tag schon hatte sie rote, halbhohe Stiefel getragen. Damals ohne Absatz, aber der Farbe war sie immer treu geblieben. Da Jenny ohne Partnerin an einer Schulbank gesessen hatte, sollte Marla sich neben sie setzen. Mit einem kräftigen Händedruck und fröhlich funkelnden Augen begrüßte sie Jenny und nahm für die weiteren zwölf Schuljahre (mit kleinen Selbstfindungsunterbrechungen in der weiterführenden Schule) neben Jenny Platz. Das aufgeschlossene, neue Mädchen war allgemein sofort anerkannt und insgeheim übertrug sich der Glanz ihrer Künstlereltern auf die ganze Klasse. Erst später konnte Jenny die Nachteile dieses so glamourös anmutenden Lebens erkennen. Zunächst war es eine willkommene Nebenwirkung der Berufstätigkeit beider Eltern ihrer besten Freundin. Marla wurde fast wie eine Schwester in das Leben der Hilgers integriert. Marlas Eltern hatten kaum Zeit und die Ferien verbrachte Marla immer in Hamburg bei ihrer Großmutter. Später wurde Jenny auch oft dorthin eingeladen und die Mädchen verbrachten glückliche Tage am Elbstrand, beim Besuch eines benachbarten Tiergeheges oder einfach faulenzend im Garten des großen Hauses der Mutter von Marlas Papa. Dieser war erfolgreicher Künstler und entschied sich, da war Marla zwölf Jahre alt, nach Amerika auszuwandern. Diese Veränderung hatte Marlas Mutter nicht verkraftet. Oder es war die Belastung auf der Bühne, immer im Fokus der Beurteilung anderer zu stehen. Sie trank zu viel. Zuerst, weil es chic war. Später, weil sie es sonst nicht mehr ertragen konnte. Sie war krank und Marla litt sehr darunter, den Verfall der Mutter miterleben zu müssen. Der Vater kam nur selten und weilte dann in Hamburg. So entschied sich Marla, sofort nach dem gemeinsam bestandenen Abitur nach Hamburg zu ziehen, um dort Kunst zu studieren.

      Und nun so etwas. Welche Abgründe schlummerten nur in den Menschen. Wie herz- und gewissenlos konnte nur jemand sein, der jahrelang das Vertrauen eines ihm wichtigen Menschen genossen hatte? In diesem Moment war es ihr fast egal, dass sie eigentlich ihrem Verlobten Nick Schuld am schrecklichen Verlauf ihrer langjährigen Beziehung gab. Die für Mai kommenden Jahres geplante Hochzeit hatte ihre Liebe besiegeln sollen. Jenny ertrug keinen weiteren Gedanken mehr daran, doch die Bilder drehten sich vor ihrem inneren Auge. Sie spannte jeden Muskel an, in der Hoffnung, die Realität zerquetschen zu können. Sie presste auch das letzte bisschen Luft aus ihrem Körper, aber bei der nächsten Einatmung strömte doch wieder zarter Zukunftshauch mit dem belebenden Sauerstoff in ihren eingefallenen Brustkorb. Sich in Luft auflösen. Alles andere war für Jenny in diesem Moment nicht erstrebenswert. Nach einigen Minuten der äußersten Anspannung brach ihr Widerstand ab und der Körper erschlaffte. Selbst fürs Weinen war keine Kraft mehr übrig und so lag Jenny regungslos mit verquollenem, zum Fenster gerichteten Gesicht in ihrem Krankenhausbett.

      Die Tür des Krankenzimmers öffnete sich langsam. Auf das zaghafte Klopfen hatte Jenny nicht reagiert. Erschrocken zuckte sie zusammen, als Thea an ihrer Seite stand und ihre Hand auf Jennys Schulter legte. Mit geschwollenen Augenliedern und vom Weinen gerötetem und nassem Gesicht blickte Jenny auf. Bestürzt wich Thea einen Schritt zurück und fragte besorgt: „Was ist denn mit dir, Jenny? Ich dachte, du schläfst.“

      Jenny konnte keinen Ton aus der von Trauer abgedrückten Kehle hervorbringen. So sehr sie auch dankbar über die Anwesenheit eines Menschen war, dem sie noch vertrauen konnte, so sehr sehnte sie sich auf eine einsame Insel. Niemandem wollte sie in die Augen schauen, niemandem auch nur irgendetwas von sich erzählen. Dennoch brachte sie ein gequältes „Mein Kopf“ hervor und verbarg ihr Gesicht hinter beiden Händen. Thea reagierte sofort und verließ umgehend das Zimmer, um nach einer Krankenschwester zu suchen. Nach einigen Minuten erschien sie besorgt, in Begleitung einer Pflegekraft, zu ihrer immer noch wie ein Igel zusammengerollten Freundin.

      Schwester Mona reagierte nicht sonderlich erfreut auf die Unterbrechung ihrer soeben begonnenen Rundtour durch die Zimmer der am Knochengerüst erkrankten Patienten. Besucher wie Thea waren ihr ein Graus. Kaum erschienen sie erstmalig auf der Station, schon nörgelten sie an irgendeiner Kleinigkeit herum und meinten, das Beste für den Erkrankten rausschlagen zu müssen. Als wenn sie sich nicht sowieso schon den Hintern für diese oft verwöhnten und nicht selten wehleidigen Erkrankten aufreißen würde. Diese Jenny Hilgers schätzte sie ähnlich ein. Die konnte doch froh sein, so glimpflich mit einem Knochenbruch davongekommen zu sein. Manch anderer, der sich schwungvoll um einen Baum wickelte, landete im Himmel. Vielleicht auf Wolke sieben oder acht, keine Ahnung.

      Und diese Besucherin …

      Mit ihren Klapperschuhen war ihr die Dringlichkeit ihres Gesuches schon von Weitem anzuhören. Nun folgte Mona dieser gewollt feinen Dame in Seidenstrumpfhose und bester Markenkleidung. Diese Frau kannte sicherlich nichts vom wirklichen Leben, meinte aber ohne Zweifel, die Weisheit gepachtet zu haben. Bestimmt war sie Lehrerin oder Juristin. Vor denen musste man sich besonders in Acht nehmen. Ein falsches Wort und schon hatte man eine Beschwerde bei der Stationsleitung am Hals. Mona machte diesen Job nun bereits seit sechs Jahren und hatte gelernt, sich nichts von ihrer eigentlichen Ablehnung anmerken zu lassen. Außerdem war ihr heutiger Dienst in absehbarer Zeit beendet und sie wollte keinen Ärger mehr haben.

      „Was hat denn unsere Frau Hilgers?“, fragte sie mit deutlich uninteressiertem Ton beim Eintritt in Jennys Zimmer.

      „Sie scheint schreckliche Schmerzen zu haben. So aufgelöst habe ich Jenny noch nie gesehen.“

      Thea redete ungezwungen mit fremden Personen, denn auch sie arbeitete, wie ihre alte Studienkollegin Jenny, als Grundschullehrerin. In Köln hatten sie sich vor fast zwanzig Jahren in den gemeinsamen Vorlesungen kennengelernt und mit einer weiteren Kommilitonin eine Wohngemeinschaft in Ehrenfeld gegründet. Als sie nun die Stimme erhob, klang diese brüchig, denn der Zustand, in dem sie ihre Freundin vorgefunden hatte, war für Thea besorgniserregend.

      Sie fuhr aufgeregt fort: „Sie hat sich den Kopf gehalten und verzweifelt ‚mein Kopf‘ gesagt. Kann das noch etwas mit dem Schädel-Hirn-Trauma zu tun haben?“

      Auch wenn Mona diese Person nicht wirklich mochte, hatte sie grundsätzlich Nachsehen mit Menschen, die noch nie wirkliches Leid erfahren hatten. Für eine groß angelegte psychologische Studie fehlte Mona die Zeit, aber ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass diese Frau wahrscheinlich bisher meistens Glück mit ihrem durchgeplanten Leben gehabt hatte. Sie war eindeutig gut gebaut und gekleidet und sicherlich recht wohlhabend. Im Grunde empfand Mona sogar etwas Mitleid, denn wenn Kopfschmerzen einen Menschen so in Aufregung versetzten, war der unsichere Kern nicht weit hinter der äußeren Fassade versteckt. Sie bahnte sich einen Weg an der nun energisch blickenden Wohlstandsdame vorbei zum Bett ihrer Patientin. Diese lag, alle Muskeln angespannt, zitternd und sich den Kopf haltend, auf der rechten Körperseite und schluchzte. Diesen Zustand hatte Mona wirklich nicht erwartet und plötzlich regte sich in ihr echtes Mitleid. Sanft berührte Schwester Mona Jennys Schulter und fragte mit einfühlsamer Stimme: „Frau Hilgers? Was ist mit Ihnen?“

      Da keine Antwort zu hören war, fragte sie: „Tut Ihnen der Kopf weh?“

      Eine minimale Kopfbewegung, die wie ein Nicken zu deuten war, ließ Mona erkennen, dass die schmerzgekrümmte Frau im Bett vor ihr ansprechbar war.

      „Brauchen Sie ein Schmerzmittel, Frau Hilgers?“, fragte Mona freundlich.

      Jenny nickte etwas deutlicher und sofort setzte sich Mona in Bewegung zum Schwesternzimmer, wo in einem verschließbaren Schrank die starken und betäubenden Medikamente