Rudolf Nedzit
Letzte Skizze
Ein Roman in Fragmenten
Theodor Boder Verlag
Impressum
ebook, März 2021
Copyright © 2020 by Theodor Boder Verlag,
CH-4322 Mumpf
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Sarah Schemske,
buecherschmiede.net
Fotografie „Papier und Risse“,
© Sarah Schemske
Lektorat: Theodor Boder
ISBN 978-3-907288-05-4
www.boderverlag.ch
Zitat
*
„Denn wir wissen dunkel,
dass wir alt werden müssen und hässlich
und zu sterben haben.“
*
Aus Hans Falladas
„Wolf unter Wölfen“
Einer
Er schlug die Augen auf. Der Schlaf hatte ihn nicht im Geringsten erfrischt, im Gegenteil. Er fühlte sich schlapp und lustlos. Ein Blick auf seine Armbanduhr belehrte ihn, dass er ausgeschlafen sein müsste; immerhin hatte er zehn Stunden im Bett gelegen und er konnte sich nicht daran erinnern, während dieser Zeit eine Wachphase gehabt zu haben. Ebenso wenig konnte er sich daran erinnern, geträumt zu haben. In einer Ecke der Zimmerdecke hing immer noch die Spinnwebe. Er starrte sie an. Sie erfüllte ihn mit Unbehagen. Er musste sich aufraffen, sie zu entfernen, nein, nicht sofort, aber doch irgendwann. Überhaupt musste die ganze Wohnung mal wieder aufgeräumt werden. Er gähnte und schloss die Augen. Szenen des gestrigen Abend kamen ihm in den Sinn: das Klopfen an der Wohnungstür, der davorstehende Entsorger mit dem höhnisch grinsenden Ausdruck, die lautstarke Auseinandersetzung, das Zuschlagen der Tür, das Saufen der Flasche Wein, nachdem kein Bier mehr übrig geblieben war, das Kettenrauchen und das Leckt mich doch am Arsch-Gegrübel, welches ununterdrückbar mit alldem einherging. Er schlug die Augen wieder auf. Er, Helmut Brand, ein Etwas, ein Insasse einer der vielen den Mittelunteren vorbehaltenen Wohnsiedlungen innerhalb der Verwaltungseinheit C, ein Fabrikarbeiter niedriger Rangstufe, ein in der Beziehung mit der ihm zugeteilten Frau gescheiterter Mann, ein Dreiunddreißigjähriger auf dem besten Wege zum Alkoholiker; er lag also immer noch im Bett und versuchte, irgendeinen Grund für sich ausfindig zu machen, warum er aufstehen sollte.
Auf ein Wort
Höret! Es gäbe nichts Neues unter der Sonne? Ich sage: Es gibt nur Neues unter der Sonne! Denn wie könnte es anders sein? Wo nichts sich erhält, nicht auf Dauer, wo alles der Verwesung, wie auch immer geartet, anheimfällt, früher oder später, wo die Sekunde ihr eigenes Kind nicht kennet, seie es heute oder morgen: Wie könnte es da unter dem Licht des Himmels etwas Neues nicht geben? Mag sein, dass sich in der Hölle rein alles wiederholet, aber lasset uns nur einen Buchstaben austauschen und schon werdet ihr begriffen haben, dass in der Helle das Neue lieget, jenes Neue, welches es nur einmal geben kann und dann nimmermehr.
Jahre zuvor, viele
Bombastische Bauten. Eigentlich viel zu groß, eigentlich unzweckmäßig, denn streng genommen hatten sie überhaupt keinen Zweck; aber da es zu jener Zeit keine Strenge gab, sondern losgelöstes Dahinleben, unbekümmertes Geldausgeben, welchem genüsslich gefrönt wurde, so wurden eben Bauten erstellt und je größer, je besser. Dann musste freilich befunden werden, was mit diesen zu geschehen hatte. Jemand aus der Versammlung schlug vor, nichts zu unternehmen, es bestünde hierfür keinerlei Anlass, immerhin wäre etwas entstanden, das genüge; freilich konnte er sich damit nicht durchsetzen. Wohingegen schließlich nach teilweise hitziger Debatte festgelegt wurde, dass unbedingt und ohne Rücksichtnahme auf irgendwelche private Belange so schnell wie möglich eine Entscheidung getroffen werden musste, eine Entscheidung, die vor innerer Dynamik nur so strotzen sollte. Ein neuer Versammlungstermin wurde bestimmt.
Brands Wohnung
Ausreichend, ja. Aber was besagte das schon? Ausreichend wofür? Hätte sich jemand vehement mit dieser Frage beschäftigt, vielmehr mit deren Beantwortung, mehr aber noch mit der tiefen Begründung der Antwort, vorausgesetzt er würde sie gefunden haben und unterstellt, sie sei richtig gewesen, er wäre ins Grübeln verfallen. Aber lassen wir das. Eines Menschen Wohnung, im allegorischen Sinne, wurde immer schon überschätzt. Denn eine Wohnung hat statischen Charakter; ein Mensch aber, und somit alle Menschen, ist dynamisch. Und an seiner Dynamik wird er gemessen, von sich selber, denn sonst schert sich niemand um ihn. Das belastet ihn keineswegs, denn er ist sich selber genug, und alles Sonstige, was er um sich herum registrieren mag, scheint ihm von geringerer Bedeutung. Ein Irrtum, den er sich von Zeit zu Zeit vor Augen und Seele hält. Aber auch der belastet ihn keineswegs.
Ein Mädchen namens Julia
Schade! Sie fand es sehr schade, dass sie gerade heute nicht an dem Treffen ihrer Lesegruppe teilnehmen konnte. Denn gerade heute würden sie sich zum ersten Mal dem Lesen eines ganzen Satzes widmen, nicht einem Wort oder einzelnen Wörtern, nein, einem ganzen Satz, man stelle sich vor! Wie gerne hätte sie das mitgemacht. Es würde bestimmt ein gewaltiges Ereignis sein – und sie würde es verpassen! Vielleicht ließe es sich ja nachholen. Die anderen würden ihr dann schon weit voraus sein, aber es half alles nichts. Heute jedenfalls musste sie an der Ecke stehen, es war ihr kommandiert worden, eine Kameradin war erkrankt, sie wusste nichts Genaueres. Aber ich bin noch jung, dachte sie, erst zwanzig Jahre, das Leben liegt noch vor mir, dachte sie.
Fort mit euch Müll, euch Ranglosen!
Mitternacht. Fürchterlichste Zeit für alle, welche zur selbigen kein Dach über dem Kopf hatten. Tödliche Stunde für alle, welche zur selbigen gefunden wurden, und gefunden wurden sie alle. Gesucht, gefunden, an Ort und Stelle hingerichtet von Maschinen, weggeräumt durch Maschinen, die in Fabriken gebaut worden waren und immer noch wurden und weiterhin würden. Maschinen, geführt von Entsorgern.
Hatte Helmut Geschwister?
Wir wissen es nicht. Wir könnten uns damit trösten, dass er es selbst nicht wusste. Ist es uns ein Trost? Oder ist es belanglos, nicht der Frage, keiner Rede wert? Freilich: In einer Welt zu leben, in der Wasser höher geschätzt wurde als Blut, in der eher und vorzugsweise Maschinenteile ersetzt wurden als menschliche Körper repariert: Da mag es einem schauerlich zumute gewesen sein, falls man keine Maschine war. Seine Eltern waren jedenfalls tot. Er glaubte es zumindest (und wir wissen es ohnehin nicht). Aber in jener Zeit war glauben schon so viel wie wissen. Alles andere, etwa die unnachgiebige Suche nach Bestimmtheit, war unnütz, quälende Irritation. Und der Qualen waren schon genug, falls man ein Mensch war.
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