TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: TEXT+KRITIK
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783967074192
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      TEXT+KRITIK.

      Zeitschrift für Literatur

      Redaktion:

      Meike Feßmann, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel und Michael Töteberg

      Leitung der Redaktion: Claudia Stockinger und Steffen Martus

      Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,

      Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96

      2. Auflage: Neufassung

      Print ISBN 978-3-96707-417-8

       E-ISBN 978-3-96707-419-2

      Umschlaggestaltung: Thomas Scheer

      Umschlagabbildung: © Isolde Ohlbaum (2008)

      E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

       Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

      Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

      © edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020

       Levelingstraße 6a, 81673 München

      www.etk-muenchen.de

      Inhalt

      Norbert Otto Eke / Christof Hamann

       »Das Schöne ist das Durchsichtige«. Gespräch mit Herta Müller

       Bettina Bannasch »Aber ich bin nicht mein Fleisch«. Herta Müllers Roman »Atemschaukel«

       Natalie Moser Mehr als stille, müde und hölzerne Sätze. Herta Müllers Reflexionen über das Schreiben

       Andreas Erb / Christof Hamann »Wir sind frei, mit ihnen das zu machen, was unser Leben mit uns macht«. Produktive Mehrdeutigkeit in den Text-Bild-Collagen von Herta Müller

       Susanne Düwell »Die Nacht ist aus Tinte gemacht«. Zur Ästhetik der Hörbücher/Hörtexte Herta Müllers

       Daniela Doutch Zwischen — denken. Herta Müllers und Katie Mitchells »Reisende auf einem Bein«

       Udo Friedrich Metapher als Umweg – Umweg als Metapher. Zur Bildlichkeit des Weges bei Herta Müller

       Roland Borgards Der fünfte Hase. Herta Müller collagiert mit den Tieren

       Norbert Otto Eke »Ein paar Freunde lachen. so verrückt daß ganz nahe / schon im Schach das Schweigen steht«. Lachen in Herta Müllers Texten

       Martina Wernli »Diese Diktaturen sind immer noch da«. Herta Müller als engagierte Autorin

       Esther Kilchmann Sprache als Mehrsprachigkeit in der Poetologie Herta Müllers

       Axel Dunker »Die Angst hat mich zwischen die Böden der Sprache getrieben«. Zum Stellenwert von Interkulturalität im Werk Herta Müllers

       Bibliografie

       Notizen

       »Das Schöne ist das Durchsichtige« Norbert Otto Eke und Christof Hamann im Gespräch mit Herta Müller

      Die erste Frage, Frau Müller, gilt dem Verhältnis von Erfahrung, Biografie und literarischem Text. Zur Psychodynamik des Lesens gehört, dass sich beim Lesen als Effekt des Textes stets eine innere Stimme im Kopf des Lesenden Gehör verschafft. Diese Stimme wird häufig mit der realen Autorin Herta Müller gleichgesetzt. Wie verhält es sich damit? Sie selbst haben sich ja wiederholt auf den von Serge Doubrovsky in die Diskussion eingeführten Begriff der Autofiktionalität als Modus autobiografischen Schreibens bezogen, um das wechselvolle Verhältnis von Nähe und Ferne zu erklären.

      Die Beantwortung Ihrer Frage hängt davon ab, was man als literarischen Text bezeichnet. Im Fall von Essays, in denen man über sich selbst spricht, zum Beispiel über die eigene Kindheit, stimmt das schon überein. Essays sind ein Genre, das zur Voraussetzung hat, dass das, was man über seine eigene Biografie sagt, auch stimmt, dass nichts erfunden wird. Ein Essay ist diesbezüglich mit einem journalistischen Text vergleichbar. Auch ein Journalist darf ja nicht erfinden und anschließend behaupten, er habe das, was er in einer Reportage beschreibt, gesehen oder erlebt. Romane und Collagen, überhaupt fiktionale Texte, sind aber etwas anderes; sie arbeiten zumindest teilweise mit Fiktion. Andererseits: Das wirklich Erlebte ist Vorlage für die literarische Fiktion, und eigene Erfahrungen schreiben daran stets mit, auch wenn ich die äußeren Umstände nicht respektieren muss. Wenn ich beispielsweise über ein Verhör schreibe, dann schreibe ich aus meiner Erfahrung heraus darüber, eben weil ich Verhöre erlebt habe, erfinde aber zugleich ein ›literarisches‹ Verhör‹; daraus entsteht dann eine Situation, die mit keinem der realen Verhöre identisch ist. Aber meine innere Erfahrung, das heißt mein Wissen davon, wie ein Verhör vor sich geht, schreibt an der Fiktion mit; sie ist die Grundlage der Erfindung. Und das macht auch viel mehr Sinn, in einem fiktionalen Text etwas zu erfinden; ein fiktionaler Text würde müde werden, wenn er die Voraussetzungen eins zu eins respektieren müsste. Fiktionale Texte haben ganz andere Voraussetzungen als Essays. Beim Schreiben von Essays muss ich mir nicht vornehmen, eins zu eins die Realität zu respektieren; das ergibt sich von selbst.

      Es gibt in den unterschiedlichen Gattungen und Genres also unterschiedliche Grade von Nähe und Ferne zur eigenen Biografie?

      Es kommt auf den Ausgangspunkt an, den man sich selber gesetzt hat. Wenn ich mir vornehme, einen biografischen Essay zu schreiben, dann ergibt sich der Umgang mit der Realität eigentlich von selbst. Beim Schreiben von Romanen genauso. Vielleicht ist das bei mir eine Art innere Notwendigkeit, ein eigener Kompass.

      Stützen Sie sich beim Schreiben auf Aufzeichnungen, beispielsweise auf Tagebücher, Arbeitsjournale oder andere Formen der Aufzeichnung?

      Ich habe nie Tagebuch geschrieben und tue das auch nach wie vor nicht. Ich könnte mich nicht in so eine selbstauferlegte Pflicht einspannen. Auch würde mir wahrscheinlich oft die Lust dazu fehlen. Ich glaube außerdem, dass ich manche Erfahrungen oder Begegnungen gar nicht in Worte fassen will. Vor allem aber: Damals, in Rumänien, hätte ich gar nicht ausgehalten, meine Erlebnisse unmittelbar oder kurz danach aufzuschreiben. Ich war verstört, und ich hätte es nicht ertragen, mir diese Verstörung dann auch noch in Worten und Sätzen bewusst zu machen. Nicht, dass ich all die Turbulenzen und Ängste bewusst verdrängt hätte, aber all das saß eher abstrakt in meinem Kopf, obwohl es für sich genommen völlig konkrete Ursachen hatte. Also allein aus Selbstschutz hätte ich damals kein Tagebuch führen können. Dazu kamen die ständigen Hausdurchsuchungen. Ich hätte, was ich aufschrieb, verstecken müssen. Aber wo? Wahrscheinlich wären die Notizen gleich bei der ersten Hausdurchsuchung gefunden worden. Und dann hätten die Behörden natürlich ein großartiges Beweismittel gegen mich und meine Freunde in der Hand gehabt. Einmal angenommen, ich hätte damals ein Tagebuch schreiben wollen, hätte ich es so führen müssen, dass es im Falle der Beschlagnahme durch den Geheimdienst nicht gegen uns hätte verwendet werden können. Ich hätte das Erfahrene, Erlebte und Erlittene verschlüsseln, verklausulieren oder fingieren müssen. Über Ihre Frage habe ich noch nie nachgedacht, aber es könnte sein, dass das alles eine Rolle gespielt hat.