Des Kaisers Reeder. Hans Leip. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Leip
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711467237
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instinktiv bewahrt zu sein. Hier weiß er sich ins Humorige zu retten. „Mücken?“ lacht er, „tatsächlich, Fru Reimers, mindestens twe Mücken sünd hier to veel!“ Damit komplimentiert er die beiden hinaus und schließt sachte ab. Nimmt den Brief abermals in die Hand, das Papier leuchtet im Lichte des Petroleums einen Augenblick grell auf. Dann fliegt es zerknüllt zu Boden, wird erneut aufgenommen, wiederum entfaltet und schließlich in kleine Fetzen zerrissen. Ein trockenes Schluchzen würgt ihn. Aber die Hände greifen nicht noch einmal nach der kleinen Perle. Allerletzte Not? So weit ist es denn doch noch nicht. Hat ihn nicht das Vertrauen Carrs, dieses solide, achtbare hansische Vertrauen, sichtlich erkoren, nicht allein um seinetwillen, sondern für seine ganze Rasse? Hat er nicht Pionierdienst zu tun? Sind die Mutter und die Schwestern nicht mehr da, für die er zu sorgen hat? Er nimmt ein Bündel Akten vom Sofa, beißt die Zähne aufeinander, legt die Fingerspitzen zusammen und blickt durch die Gardine hindurch auf die Lichter eines ausfahrenden Ozeaners.

      „Dort ist mein Lebenszweck“, flüstert er durch die Zähne. „Alles andere ist Abweg! Also? Weitermachen!“

      *

      „Wir schuften wie zehn Derbygäule!“ Herr Carr beugt sich übers Pult zu seinem Teilhaber, die Importe im Mundwinkel, den Hut im Nacken, die unvermeidliche Reitgerte unterm Arm. Er blättert in den umfänglichen Aufstellungen. Monat um Monat waren die Abschlüsse gestiegen, die Zahl der Passagen, die Summen der Einnahmen, die Abfahrten und die Ausgaben. Aber die Einnahmen überwiegen. Die Propagandaposten sind zurückgegangen, die Wolldecken längst abgeschrieben.

      „Jedenfalls sitzen Sie gut im Sattel, Herr Carr“, nickt Ballin.

      „Dabei ist mir immer, als hätte ich Ihnen den Steigbügel gehalten, Herr Ballin, und als wären mir Sporn wie Zügel entglitten.“ Carrs Pokergesicht verschattet sich, ein Abglanz der Düsternis, die über seinem Teilhaber liegt.

      „Vielleicht trennen wir uns, Herr Carr“, sagt Ballin leise.

      Carr schnippt bestürzt mit den Fingern. „Dann verkauf’ ich lieber.“

      „Wäre zu früh!“

      Carr stößt ihm abrupt die Hand hin: „Versprechen Sie mir, bei der Stange zu bleiben.“

      Ballin legt die Fingerspitzen zusammen, sein Blick geht zum Fenster hinaus. Der Hafenqualm spult sich schmutzig in den Sommertag. Von der Passageabfertigung nebenan hört man gleichmäßiges Summen, Kommen und Gehen. Es wirkt einschläfernd wie ein Mückengesang. Er muß an die dralle Nichte von Frau Reimers denken. Wäre es nicht viel besser, statt der mageren Gentlemanshand des Compagnons, weibliche Arme zu fühlen?

      Des Reeders gekränkte Stimme dringt wie aus weiter Ferne an sein Ohr: „Ballin, wenn Sie auf bessere Beteiligung aus sind, auch das!“

      „Das soll es nicht sein, Herr Carr.“ Ballin wendet den vollen Blick auf den Partner: „Allerdings wäre es perfide, Sie auf der Höhe des Erfolges zu verlassen.“

      „Ist sie erreicht?“

      „Und bald überschritten.“

      „Machen Sie keine Scherze, Ballin!“

      „Wir müssen den Fahrpreis noch einmal senken.“

      „Nein!“ Die Gerte pfeift unwirsch durch die Luft und klatscht an die Pultflanke.

      „Der Lloyd hat schon, die Compagnie Générale Transatlantique, die Holland-Amerika, die Allan, Glasgow, Antwerpen, die White Star, die Liverpooler, alle haben die Sätze geschmissen, um uns klein zu kriegen.“

      „Verfluchte Schufte!“

      „Das Vorrecht der Erstgeburt kitzelt sie!“

      „Und die Hapag?“

      „Auch die Hapag.“

      „Das ist bitter!“

      „Aber es lohnt sich, Herr Carr.“

      „Verdammte Sauerei!“

      „Das Spiel beginnt erst!“

      „Spiel nennen Sie das, Ballin?“

      „Wie beim Derby.“

      „Also scheinen doch Sie der zu sein, der im Sattel sitzt.“

      „Dann vertrauen Sie dem Jockey, Herr Carr.“

      Der Reeder sieht ihn durchdringend an. Er versteht nicht, wer hier abgehalftert ist. Immerhin heißt die Firma Carr-Linie, nicht Ballin-Linie. Der Reeder zieht die Hand zurück, streift die wildledernen gelben Handschuhe über, schiebt den Hut zurecht, nickt „Addio!“, geht, blickt zurück, flötet ein Signal und ruft:

      „Eh ich’s vergesse, draußen am Lager wartet jemand auf Sie, ganz privat.“

      Ballin dankt kurz. Er muß sein freudiges Erschrecken verbergen. Wer möchte ihn wohl privat sprechen wollen, wenn nicht die eine, die zu vergessen keine noch so betäubende Arbeit ausreicht?

      *

      Der Lagerraum der Carr-Linie gleicht einer Mustermesse europäischer Fertigwaren. Frachtstücke, Kisten, Ballen, Fässer tragen Aufschriften fast aller Industrien von Skagen bis zur Adria. Neben Speditionsgut häufen sich Schiffsbedarfsartikel aller Art, Tauwerk, Ersatzteile für Maschinen, Kajüts- und Logisausrüstungen, Laternen und nautische Instrumente. Die besonders kostspieligen Kompasse, Sextanten, Chronometer und Ferngläser liegen sorgsam verpackt und wohlverschlossen hinter einem engmaschigen Eisengitter.

      Auch in diesem Raum fehlen die bunten Plakate nicht und werben von den gekalkten Wänden für die junge Reederei. Daneben mahnt unübersehbar rot umrandet eine gedruckte Vorschrift, wie man sich bei Feuersgefahr zu verhalten habe.

      Nur ein schmaler Zickzackgang ist für die Bewegung von Mensch und Sachen frei gelassen. Ballin folgt ihm spähend, dem Ausgang zu. Der Lagermeister hat Fragen zur Verproviantierung. Ein Athlet von Arbeiter, die groben Hände vor der sauberen Schürze, möchte Urlaub wegen Kindstaufe. Ballin gibt ihm einen Taler für den Täufling. „Wo schall he denn heeten, Käsebier?“

      „Albert natürlich“, lächelt der Riese.

      Endlich ist Ballin am Ausgang zum Hof. Das Herz klopft ihm. Aber was da steht und ihm den Rücken zukehrt, ist kein weibliches Wesen. Vielleicht ist es Mariannes Vater. Er hat ihn vor einigen Tagen in aller Form schriftlich um die Hand seiner Tochter gebeten, ist aber bis jetzt ohne Antwort. Gefaßt tut er ein paar Schritte. Da erkennt er, ehe noch der Besucher sich umdreht, seinen Bruder.

      „Joff!“ sagt er herzlich, ohne sich die Enttäuschung anmerken zu lassen. Der Angeredete wendet sich nervös um. Er ist modern, aber salopp angezogen, ja, nahebei gesehen, fast verwahrlost. Sein Gruß klingt heiser aus dem bleichen Gesicht zurück. Eine hastige Rasur hat kleine blutkrustige Schnitte am Kinn zurückgelassen und den neumodischen Stehkragen beschmutzt.

      „Hast du dich duelliert?“ fragt Albert, um Heiterkeit bemüht.

      „Quatsch!“ zischt der Bruder und rückt dicht heran. Sein unreiner Atem geht heftig.

      Er flüstert scharf: „Ich muß die Perle haben!“

      „Welche Perle?“

      „Der dicke Boß hat mir’s erzählt.“

      „Sie ist nichts wert. Wieviel brauchst du?“

      Joseph saugt an den schadhaften Zähnen, zupft sich an den früh ergrauten Bartkoteletten: „Albert, die chilenischen Obligationen! Eine goldige Chance. Ich hatte alle Trümpfe in der Hand.“

      „Und ich hab’ dich gewarnt.“

      „Du hast gut reden, hast dich bei dem smarten Carr ins Nest gesetzt. Aber ich muß zahlen. Das sind Ehrenschulden wie beim Spiel, Albert, davon verstehst du nichts. Wechsel. Und kann nicht. Gib mir die Perle! Ich weiß, was drinsteckt. Rasch und schmerzlos ...“

      „Hier, Joff!“

      Albert hat die Brieftasche gezogen, greift wahllos ein Bündel Scheine heraus, drückt sie dem Bruder in die zitternd zuschnappende