Über die Autorin
Melody Carlson hat bereits mehr als 100 Bücher für Kinder und Erwachsene geschrieben. Davon konnte sie zwei Millionen Exemplare verkaufen. Außerdem ist sie für ihre Arbeit mit mehreren Preisen ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem RITA Award und dem ECPA Gold Medallion. Sie hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Mann Chris in Sisters, Oregon.
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George Emerson brauchte keinen Menschen. Das zumindest redete er sich ein, während er vorsichtig mit dem Rasiermesser über seine Wangen strich, wie er es an jedem Tag der Woche um genau 7:07 Uhr morgens tat. Viele Männer rasierten sich mit diesen moderneren Rasierapparaten, das war George bewusst, aber dieses Rasiermesser mit einem silbernen Griff hatte ihm sein Großvater hinterlassen. Während er die scharfe Klinge an einem weichen Frotteehandtuch abwischte, reckte er den Hals, um sein glatt rasiertes Kinn in dem beschlagenen Spiegel zu begutachten. Mit seiner Lesebrille konnte er besser sehen, aber nach so vielen Jahren Routine war George ziemlich sicher, dass nichts zu beanstanden wäre.
Nachdrücklich schloss er das Badfenster, weil er das fröhliche Summen seiner ein wenig aufdringlichen Nachbarin nicht mehr hören wollte. Fieberhaft überlegte George, wie er Lorna Atwood an diesem Morgen aus dem Weg gehen konnte, ohne unhöflich zu erscheinen. Seit ungefähr zehn Minuten machte sie sich im Garten zu schaffen, und George war ziemlich sicher, dass sie ihn abpassen wollte, sobald er das Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen.
Gerade als er die Kappe auf seine Tube mit Rasierschaum setzte und sein Rasiermesser in den angeschlagenen Keramikbecher stellte, hörte er das Pling in der Küche. Der Kaffee war durchgelaufen.
Die Kaffeemaschine mit der Zeitautomatik war eine dieser neumodischen Errungenschaften, zu denen sich George vor ein paar Jahren hatte überreden lassen. Aber so ganz traute er dieser Maschine nicht. Eigentlich traute er den meisten elektrischen Geräten nicht. Was, wenn sie einmal verrückt spielte und mitten in der Nacht Kaffee kochte?
Während er seinen Thermosbecher mit dem dampfenden Kaffee füllte, warf George einen Blick durch das Küchenfenster. Lorna hatte sich mittlerweile auf ihrer vorderen Veranda niedergelassen. Er steckte zwei dünne Scheiben Weizenbrot in den Toaster, nahm ein hart gekochtes Ei aus dem Kühlschrank und goss sich ein kleines Glas Grapefruitsaft ein. Das war sein Frühstück an den Wochentagen. An den Wochenenden briet oder pochierte er sich manchmal ein Ei, oder, wenn ihm besonders nach feiern zu Mute war, ging er hinüber in den Blue Goose Diner und gönnte sich Pfannkuchen mit Speck, die er sich beim Zeitunglesen schmecken ließ. Das allerdings hatte er schon länger nicht mehr gemacht. Bestimmt ein Jahr lang nicht.
Aber heute war Freitag, und um 7:27 Uhr hatte George sein Frühstück beendet und das Geschirr abgespült. Mit dem frisch aufgefüllten Thermosbecher und der Aktentasche in der Hand verschloss er seine Haustür, prüfte noch einmal nach, ob sie auch wirklich abgeschlossen war, und überprüfte es noch ein drittes Mal, nur für den Fall. Demonstrativ warf er einen Blick auf die Uhr und dann blickte er vorsichtig nach rechts und links, um sich davon zu überzeugen, dass Lorna nicht irgendwo lauerte.
Für Ende Mai stand die Sonne schon ziemlich hoch am Himmel. Im vergangenen Herbst hatte die Warner Highschool den Schulbeginn um eine Stunde nach hinten verschoben. Daran hatte er sich noch nicht so ganz gewöhnt. Obwohl sich seine innere Uhr gestört fühlte, musste George zugeben, dass den Schülern die zusätzliche Stunde Schlaf gut tat. Sie schienen nun morgens etwas wacher zu sein.
„Guten Morgen, Mr Emerson“, zwitscherte Lorna Atwood fröhlich. Wie ein kleiner Springteufel in farbenfrohes Lycra gekleidet trat sie plötzlich aus dem Schatten ihrer vorderen Veranda heraus. „Ein wunderschöner Tag heute, nicht?“
Er schaute hoch zu dem wolkenlosen Himmel und nickte zustimmend. „Sieht tatsächlich so aus, als würde es heute schön. Das stimmt.“
„Wie ungewöhnlich hier in dieser Jahreszeit im westlichen Oregon. Im vergangenen Jahr hat es den ganzen Mai und Juni über geregnet.“
Mit ihrem rosa Kaffeebecher in der Hand eilte sie zu ihm hinüber. Hatte sie diesen Becher bewusst ausgewählt, weil er zu ihrem Lippenstift passte?
„Sie haben doch hoffentlich meine Einladung nicht vergessen, oder?“ Hoffnungsvoll blickte Lorna ihn an.
George täuschte Verwirrung vor und tippte sich an die Stirn. „Es tut mir so leid, Mrs Atwood, aber mir fällt gerade ein, dass ich für heute Abend schon andere Pläne habe. Ich hoffe, Sie entschuldigen mich.“
„Ach, wie schade.“ Ihr Lächeln blieb unverändert. „Vielleicht ein anderes Mal. Der Sommer steht jetzt vor der Tür, da haben wir sicher noch jede Menge Gelegenheit zusammenzukommen. Wir werden es einfach auf einen anderen Tag verschieben. Ich habe also bei Ihnen etwas gut.“
Sie spähte zum Himmel hoch. „Da wir gerade von Guthaben sprechen, am Wochenende soll das Wetter schlechter werden. Vielleicht können wir ja dann etwas ausmachen.“ Sie zwinkerte ihm zu.
George zwang ein höfliches Lächeln auf sein Gesicht, als er ihr zunickte und seinen Weg an ihrem kleinen Vorgarten vorbei fortsetzte. Ihr Rasen müsste dringend mal gemäht werden. Er hoffte nur, dass er sie nicht an ihren Mietvertrag erinnern müsste, denn darin war ganz klar festgelegt, dass sie für ihren Garten selbst verantwortlich war. Ihr kleiner gelber Bungalow war fast identisch mit dem, in dem er selbst wohnte – nur dass seine Fassade kornblumenblau gestrichen war.
Zusammen mit seinen Großeltern hatte er Ende der 80er-Jahre in diese kleinen heruntergekommenen Häuser investiert, damals, als die Immobilienpreise noch lächerlich niedrig waren. Kurz nachdem er die Stelle als Lehrer an der nahe gelegenen Highschool bekommen hatte, hatte er den ersten Bungalow zur Eigennutzung gekauft. Da er nicht gerne Auto fuhr, war es sinnvoll, in der Nähe zu seinem Arbeitsplatz zu wohnen, sodass er zu Fuß dorthin gelangen konnte. Und seither arbeitete er als Lehrer an der Warner High.
Mit der Hilfe seines Großvaters, der großes handwerkliches Geschick besaß, hatte George an den Wochenenden und an den Abenden sein kleines blaues Haus renoviert. Das war eine gute Ablenkung für ihn gewesen, um nicht ständig über die Träume nachdenken zu müssen, die sich für ihn nicht erfüllt hatten. Vielleicht hatten ihn seine Großeltern deshalb dazu ermutigt, drei weitere kleine Häuser zu kaufen. Das würde ihn von seinem Schmerz ablenken, und er hatte immer etwas zu tun.
Sie hatten ihm die Immobilienkäufe schmackhaft gemacht, indem sie sie ihm als gute Investition anpriesen. Und es war, wie sich später zeigte, tatsächlich klug, Immobilienwerte in seiner Nachbarschaft zu erwerben. Damals war der Kauf von heruntergekommenen Immobilien noch ein wenig leichtsinnig erschienen, zumal die Mieter aus den Städten in die „Sicherheit“ der Vororte flohen. Aber in den vergangenen zehn Jahren hatte sich dieser Trend umgekehrt.
Die Menschen kehrten in die Stadt zurück, und die Mieten in seinem Viertel waren mittlerweile so hoch wie nie zuvor. Seine drei Bungalows, die nur einen Straßenzug von der Innenstadt entfernt lagen, hatten in letzter Zeit nicht einen einzigen Tag lang leer gestanden.
Mrs Atwood, seine neueste Mieterin, war überglücklich gewesen, in diesen Bungalow einziehen zu können. Obwohl sie erst seit einigen Monaten dort wohnte, hatte George schon sehr bald gemerkt, dass im Umgang mit ihr Vorsicht geboten war. Sie war geschieden und sehr gesellig, und sie konnte ununterbrochen plaudern, wenn sie die Gelegenheit dazu bekam. Vermutlich war ihr Mann geflohen, weil er sich nach Frieden und Ruhe sehnte, obwohl Mrs Atwood behauptete, Opfer der Midlifecrisis ihres Ex-Mannes geworden zu sein. Sie sah nicht schlecht aus – das musste er zugeben –, aber sie redete eindeutig zu viel. Und sie war viel zu bemüht.
Kurz nach ihrem Einzug hatte George ein paar kleinere Reparaturen an dem Bungalow vorgenommen, und als Dank für seine Hilfe hatte sie ihn zum Abendessen eingeladen. Als er ablehnte, bestand sie darauf, ihren berühmten Kirschkuchen für ihn zu backen. Er gab vor, sich über diese nette Geste zu freuen, aber der viel zu süße und klebrige Kuchen wanderte direkt in den Müll, da George nicht viel für Kuchen übrig hatte.
Trotzdem hatte er ein höfliches Dankeschön an die gespülte Tortenplatte geheftet und ganz früh am folgenden Morgen auf ihre Veranda gestellt. Doch