Die Siebte Sage. Christa Ludwig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christa Ludwig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783772542701
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      CHRISTA LUDWIG

      Die Siebte Sage

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       Inhalt

       Flucht mit einem Schuh

       Freundschaft

       Flucht ins Gefängnis

       Hinter der Blumenmauer

       Ein Aramine mit Herz zerbeißt seine Zunge

       Geheimnisse

       Glückstag

       Die geprügelte Sonne

       Der weiße Lakai

       Das Gesetz

       Januãos letzte Augenblicke

       Träume

       Das Hdorigo-Rot

       Blindenschule

       Ein Wieder-Sehen

       Das Zeichen von Leben oder Tod

       Wasser

       Abwasser

       Der Tod ist da, wo du daheim bist

       Im Saal der weichen Stimmen

       Katzenorgel

       Das Gastmahl unter der Erde

       Lesen ist lebenswert

       Auf der Suche nach dem verborgenen Schmutz

       Das dreimal gewendete Blatt

       Ein paar Wörter, die du vielleicht nicht kennst?

       Meinen jungen Lektorinnen und Lektoren

       Alles erfunden?

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       Flucht mit einem Schuh

      Wasser!

      Dshirah liebte Wasser. Daheim in der weiten Ebene am Fluss, wo man immer rechtzeitig sah, ob sich jemand näherte, durfte sie die Schuhe ausziehen und im Wasser planschen. Sie konnte sogar ein wenig schwimmen. Die fünf Jungen, die vor ihr in dem schmalen künstlichen Bach mitten in der Stadt herumsprangen, konnten das bestimmt nicht.

      «Dshirah!», schrie Silbão und spritzte ihr Wasser ins Gesicht. Er war ein Freund ihres Bruders und sie mochte ihn. Doch sie wandte sich ab.

      Ich hätte nicht mit den Jungen gehen sollen, dachte sie. Aber in einer Stadt wie Al-Cúrbona ist es nicht leicht, allein nach Hause zu gehen, wenn die Schule zu Ende ist. Jenseits des kleinen Platzes sah sie die Mädchen aus ihrer Klasse gerade in einer Straße verschwinden. Eine drehte sich um und winkte ihr zu. Beinahe hätte Dshirah zurückgewinkt, es zuckte in ihrer Hand, aber sie presste noch rechtzeitig den Arm an den Körper. Drei Tage hintereinander war sie mit diesem Mädchen bis zur Plaza de las Poemas gegangen, drei Tage, das war fast der Beginn einer Freundschaft. Und Dshirah hatte den Eltern doch fest versprochen, dass sie nie nie nie eine Freundin haben würde, sonst hätte sie nicht zur Schule gehen dürfen.

      Ein nasser Ball traf sie im Rücken. Silbão lachte. Das Wasser reichte ihm bis zum Knie. Es floss hier mit nur leichter Strömung am Rand der sacht abfallenden Straße in einem kunstvollen Bachbett aus bunten Fliesen mit Schnörkeln und Ornamenten. Silbão bückte sich, patschte auf das Wasser, dass es spritzte und sprühte. Im Regen der Tropfen sah er noch schöner aus, allerdings nicht klüger. Er war ein Aramine mit schwarzem, gewelltem Haar und dunklen Augen.

      «Dshirah, Dshirah wasserscheu …», rief er, «wasserscheu, wasserscheu, wasser-, wasser-, scheu, neu, freu?»

      Er kam nicht weiter. Im Verse-Machen war Silbão ein völliger Versager. Er schaute hilflos auf den kleinen Kirr, der auf den Randfliesen saß. Kirr hatte helle Haare, er war ein Barde wie Dshirah. Er hob den Kopf und sagte: «Dshirah, Dshirah wasserscheu, fasst keinen Tropfen Wasser an, es sei denn, dass man’s trinken kann.»

      «Fasst keinen Tropfen Wasser an …», schrie Silbão.

      «Ich bin nicht wasserscheu», unterbrach Dshirah und trat näher an den Bach.

      Ich muss gehen, dachte sie, weg! Weg!

      Aber sie war elf Jahre alt und wollte mit anderen Kindern spielen, nicht immer nur daheim mit ihrem Bruder und mit – oh, sie hatte eine Freundin! Doch das durfte niemand wissen.

      Silbão sprang an einer bunten Schlange aus mehreren Fliesen entlang, die sich am Boden des Bachbettes ringelte. Er lachte.

      Ich muss gehen, dachte Dshirah und sagte: «Ich kann nur nicht ins Wasser, weil meine Schuhe dann so rutschig werden.»

      «Zieh sie aus!»

      Die Sandalen der Jungen lagen alle auf der Straße.

      «Das geht nicht. Meine Mutter bindet sie immer so fest. Ich krieg sie nicht auf.»

      Niemand kriegt sie auf, dachte sie, die auch nicht.

      Denn Dshirah trug keine Sandalen, sondern weiche Lederschuhe. Bänder waren über Kreuz ihre Unterschenkel hinauf gewickelt und unter ihrem Knie mit einem Knoten zusammengehalten, den niemand öffnen konnte, nicht einmal ihre Mutter. Die schnitt ihn jeden Abend auf und zog neue Bänder ein.

      Silbão hörte auf zu planschen.

      «Warum hast du nur diese Schuhe an?», fragte er.

      Er kam häufig Dshirahs Bruder besuchen und wusste, dass sie diese Schuhe immer trug.

      «Hast du keine Sandalen?»