Ministerium der Liebe. Bettina Gugger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bettina Gugger
Издательство: Bookwire
Серия: Short Cuts
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906037479
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bis Katharina schliesslich schrie: «Ich rufe Mike an!», und Livia unsicher fragte: «Sollen wir mitkommen?» Aber die Dame schüttelte bloss den Kopf. Nathalie liess sich in den silbernen Peugeot fallen. Im Wagen roch es nach einem Duftbäumchen.

      Die Tortur begann. Nach zwanzig Stunden war sie völlig erschöpft und bekam erstmals eine PDA. Dann ging nichts mehr voran, bis schliesslich die Hebamme die Fruchtblase öffnete. Die Schmerzen kamen mit voller Wucht zurück. Ihr war, als ob der Schmerz sich immer weiter ins ganze Universum ausdehnte, um dann wieder auf sie zurückzufallen. Der Schmerz verschlang sie, zerriss sie, vernichtete sie. Sie wurde hinabgestossen, ins Feuer, in die Hölle. Dort wurde sie in einem grossen, schweren Messingtopf immer und immer wieder aufgekocht.

      Aber der Muttermund ging nicht auf. Der Scheissmuttermund ging nicht auf. «Erschiesst mich doch endlich!», wollte sie schreien, aber sie hatte keine Kraft mehr dazu. Die Herztöne des Kleinen fielen ab. Das Köpfchen lag quer im Becken. Dann wurde sie in den OP gerollt. Die Ärzte zerrten und drückten, und Wellen der Panik fluteten Nathalies Körper, der längst nicht mehr ihr Körper war. Sie bekam ein Beruhigungsmittel gespritzt. Schliesslich war das Kind da. Aber nicht für lange. Gleich wurde es von der Schwester mitgenommen.

      Mikesch hatte die ganze Zeit über draussen gewartet. Er hatte sich in einem merkwürdig schlafwandlerischen Zustand befunden. Vollgepumpt mit Automatenkaffee, eine Zigarette nach der nächsten rauchend.

      Als Mikesch schliesslich bei ihr war und den Bub auf ihren Bauch legte, schüttelte sie den Kopf. Warum sollte das ihr Kind sein? Sie versuchte das Kind zu stillen, musste der Hebamme aber bald mitteilen, dass sie das nicht könne. Es würde sie wütend machen. Sie schaute das Kind an und war fest davon überzeugt, dass es sich um eine Verwechslung handeln musste. Sonst würde sie doch etwas empfinden für dieses Baby, für ihren Sohn. Aber sie fühlte nichts. Nichts. Ausserdem: Wut. Wut, dass ihr diese unglaublichen Schmerzen angetan wurden. Dann hatte sie noch zu viel Blut in der Gebärmutter, und erneut wurde an ihr rumgedrückt. Als sie aufstehen durfte, floss das Blut nur so an ihr hinunter. Sie fühlte sich vernichtet, jeglicher Würde beraubt.

      Mikesch streichelte ihr Gesicht, sagte: «Du hast es hinter dir, du warst so tapfer!»

      Und sie stöhnte: «Gar nichts habe ich hinter mir. Ich habe Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen.»

      Als sie endlich nach Hause durfte, hatte sie nur einen Wunsch: So schnell wie möglich zu vergessen. Sie goss sich in der Küche ein Glas Whiskey ein. Mikesch hielt das Kind auf dem Arm und schaute sie mit traurigen Augen an.

      «Schau nicht so», sagte sie. «Kannst du dir vorstellen, was ich durchgemacht habe? Nein, kannst du nicht!»

      In den darauffolgenden Tagen kümmerte sich Mikesch um das Kind und um Nathalie, die sich wegen der Narbe kaum bewegen durfte.

      Sie wollte das Kind nicht an sich nehmen und meinte bloss: «Noch nicht.»

      Mikesch bat seine Mutter um Hilfe. Diese meinte aber, sie könne auf die Schnelle nicht weg, ausserdem sei eine Reise vom Graubünden nach Bern für sie im Moment körperlich nicht machbar. Sie sagte bloss, dass niemand Kinder haben würde, wenn man im Voraus wüsste, was auf einen zukäme. Die erste Woche sei, mal ganz abgesehen von der Geburt, die schlimmste, «der reine Horror», sagte sie. Aber Gott sei Dank würde das Hirn schnell vergessen, sonst, wie gesagt, wäre die menschliche Spezies längst ausgestorben. Er solle Nathalie Zeit lassen. Sie hätte eine Wochenbettdepression, aber auch das ginge vorbei.

      Mikesch telefonierte mit Nathalies Hebamme, um den Therapieverlauf zu besprechen. Sie nahm kein Blatt vor den Mund. Die Worte hallten in seinem Kopf nach: «Schweres Trauma.»

      Einen Tag, nachdem Nathalie die Fäden der Operationsnarbe entfernt wurden, war sie weg. Mikesch war mit dem Kind nur kurz draussen gewesen, um Windeln zu kaufen. Als er die Tür der Wohnung öffnete, wusste er gleich, dass etwas anders war. Ihre Jacke war weg. Ihre Schuhe waren weg, und zwar nicht nur die Turnschuhe, die sie in den letzten Wochen getragen hatte. Auch die Dr.-Martens-Stiefel. Reflexartig ging er zur Kommode, worin sich ihre Unterwäsche befand. Sie war halb leer. Er ging weiter zum Schrank. Der Tramper war weg.

      Panik stieg in ihm hoch. Hätte sie den Rollkoffer genommen, wäre sie sicherlich zu ihrer Mutter oder Schwester gefahren. Vielleicht zu einer ihrer Freundinnen. Die hatte ihm gesagt, dass er nun sehr viel Geduld bräuchte. Sobald sie aufnahmefähig sei, solle er eine Therapie thematisieren. Je eher, desto besser. Er hatte sich im Internet verschiedene Angebote angeschaut. Dabei war er auf eine Tiefenpsychologin gestossen, die einen spirituellen Ansatz verfolgte.

      Nach drei Tagen gab er eine Vermisstenanzeige bei der Polizei auf. Der Beamte gab ihm jedoch gleich zu verstehen, dass er sich nicht zu viele Hoffnungen machen sollte.

      «Wohin sie auch gegangen sein mag», sagte der Beamte, «sie scheint freiwillig gegangen zu sein.»

      Absurderweise war es dieser Satz, der ihm in den darauffolgenden Wochen Kraft gab. Sie konnte das Kind nicht annehmen. Sie wollte auch mit ihm nicht mehr zusammen sein. Sie hatte ihn ganz einfach mit dem Kind sitzen gelassen.

      Ein halbes Jahr verging, ohne dass Mikesch wusste, ob sich Nathalie etwas angetan hatte, ob sie überhaupt noch lebte. Schliesslich kam ein Brief. Dem Poststempel nach zu urteilen, aus Indien. Er fragte sich, ob sie ihre Flucht vielleicht schon vor der Entbindung geplant hatte. Mittlerweile traute er ihr alles zu. Aber das würde wohl auch nicht im Brief stehen, dachte er. Er erinnerte sich an ein Ritual, auf das er damals bei der Recherche nach geeigneten Therapien für Nathalie gestossen war.

      Den Frauen wurde nahegelegt, ihren Schmerz niederzuschreiben, als Brief an sich selber gerichtet, und ihn anschliessend zu verbrennen, damit sich der Schmerz auflösen konnte.

      Er zündete ein Streichholz an, um sie von ihren Qualen zu erlösen. Mit Stanislaus auf dem Arm schaute er zu, wie der Brief im Spülbecken Feuer fing.

       In der Restaurierung

      Endlich hatte er Urlaub! Das neue Sicherheitssystem hatte Daniel den letzten Nerv gekostet. Gestern piepste der Dürer, heute ging der Alarm bei Van Gogh los, als ob die Gemälde untereinander Morsebotschaften austauschten. Angesichts dieses Desasters könnte dem dümmsten aller Kleinkriminellen der Kunstraub des Jahrhunderts gelingen. Zumal auch die Frau an der Kasse nicht die Aufmerksamkeit in Person war. Lara war ihres Zeichens selbst Künstlerin. Sie war mit einer Verpeiltheit gesegnet, die hundert Meter weit ausstrahlte, gleich einem Störsender, der die allgemeine Ordnung durcheinander brachte. Eine kolossale Verwirrtheit, die anscheinend heutzutage an Kunsthochschulen zum Lehrplan gehörte. Lara, Lara, Lara. Sprach er ihren Namen ein paar Mal hintereinander aus, machte sie ihn besoffen. Lara Lala, die ihr verschwenderisches Dekolleté mit einem Hauch zu viel Zitronenduft besprenkelte.

      Selber roch sie das wahrscheinlich gar nicht, weil sie viel rauchte. Schaute er sie länger als zwei Sekunden an, wurde ihm überall ein bisschen enger. Wurde ihm sehr eng, machte er sie auf Mängel im Kassenbereich aufmerksam, um sich etwas Raum zu verschaffen. Sie kniff dann jeweils das linke Auge zusammen und sagte: «Yes, Sir!», wodurch sie seine ganze Anstrengung zunichtemachte.

      Nun würde er also zehn Tage Ruhe haben, mochte der Richter zu spät von der Restaurierung kommen, das war ihm gerade herzlich egal. Eine ältere Dame hatte aufgrund der mörderischen Hitze in diesem Sommer einen Kreislaufkollaps erlitten und war dabei gegen das Gemälde geknallt, wodurch sich Fünfliber-gross die Farbschicht vom Bild gelöst hatte.

      Die Dame hatte natürlich viel zu wenig getrunken, wie sich später herausstellte, was für die Versicherung relevant war, um einen Vorsatz auszuschliessen.

      «Bitte schön, die Dame war achtzig. Welche achtzigjährige Dame demoliert vorsätzlich einen Richter?», hatte er zu Lara Lala gesagt, da das Museum Unsummen für die Versicherung ausgab, diese aber beim winzigsten Kratzer Anstalten machte.

      «Stell dir vor, die Dame war eine ehemalige Kollegin aus Studienzeiten», sagte Lara schulterzuckend. «Richter hat ihr diese eine Idee geklaut, mit der seine Karriere ins Laufen kam: ‹Abendmahl mit Picasso›, hingepinselt in der Mensa der Dresdner Akademie, und da hatte er noch