Magnetfeld der Tauben. Bettina Gugger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bettina Gugger
Издательство: Bookwire
Серия: Short Cuts
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906037615
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und dieser Tag soll den süssen Saft vergolden. Die Wolken erinnern an chinesische Schriftzeichen. «Noch nicht» und «Nichts» steht am Himmel. Sie kreischen und prusten. Der Kälteschock jagt Adrenalin durch ihre Körper. Jauchzend springen sie vor der Hütte auf und ab. Cla holt von drinnen eine Decke. So lassen sie sich Seite an Seite von der Sonne trocknen. Eine Libelle tanzt in der Luft.

      «Du hast gefragt, worin der Sinn besteht, etwas Sinnloses zu tun», sagt Cla. «Was, wenn es gar nicht um den Sinn geht, sondern einzig um die Schönheit?»

      Sie lächelt.

      «Du meinst, wir können stets nur das Schöne erkennen, nicht aber den Sinn?»

      «Das Schöne ist vielleicht der Sinn», lächelt Cla.

      «Es ist manchmal so schwer zu ertragen!», stöhnt Sarah.

      Cla greift nach ihrer Hand. Sein Pulsschlag geht über in ihren.

      Sie spazieren durch den Arvenwald zurück. Viele Mythen kreisen um dieses Wäldchen. Hier wachsen die höchst gelegenen Arven, deren Holz die Seele besänftigt. «Nichts», denkt sie. Sarah fühlt sich frisch und gereinigt.

      «Hier soll eine Waldfee wirken, welche den Spaziergängern ihre Lebensaufgabe offenbart. Man muss ganz still sein, damit sie sich mitteilen kann. Manchmal spricht sie in Sätzen, manchmal in Bildern. Es gibt Menschen, die sie sogar sehen können.»

      «Und wie rufe ich sie?», fragt Sarah.

      «Es reicht, wenn du gedanklich das Wort an sie richtest. Aber Vorsicht! Wer sich gegen seine Aufgabe stemmt, dem droht Ungemach. Man darf die Frage nicht vor dem dreissigsten Lebensjahr stellen, so der Volksglaube.»

      «Lebensaufgabe», sinniert Sarah. «Während meiner Kindheit und Jugend in Rumänien war irgendwie klar, worin die Lebensaufgabe bestand: Den Kindern sollte es einmal besser gehen als den Eltern. Sie sollten eine gute Bildung bekommen, vielleicht ihr Glück im Ausland versuchen. Und jede Familie hatte ihre Mantren, welche die Grosseltern den Enkeln weitergaben, kleine Weisheiten, die einen durchs Leben brachten. Während meiner Studienzeit in Deutschland stürzte ich mich auf deutschsprachige Sinnsprüche. Ich lernte Goethe auswendig: ‹Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! Denn das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen.› Ich war wahnsinnig stolz auf meine Fortschritte, auf mein Verständnis für die Tiefe der Seele. In der deutschen Sprache sah ich beides vereint, Logik und Seelentiefe. Dann merkte ich bald, dass diese Werte nichts mehr zählen sollten. Niemand sprach mehr über Goethe oder Hölderlin. An der Uni lasen wir sogenannte postdramatische Texte, die so viel besagten wie: Es gibt keine Geschichten mehr, keine Wahrheiten, nur noch Diskurse!»

      Cla lacht.

      «Und dann kommst du in die Natur, und sie beginnt dir unweigerlich Geschichten zu erzählen. Es vergeht kein Tag, an dem sie mich nicht irgendwas lehrt.» Sie atmet den Duft des Waldes ein. «Heil den unbekannten höheren Wesen, die wir ahnen! Ihnen gleiche der Mensch! Sein Beispiel lehr‘ uns jene glauben.» Zum ersten Mal versteht sie diese zweite Strophe von Goethes Gedicht «Das Göttliche». Der tugendhafte Mensch soll den anderen durch sein Vorbild das Göttliche näherbringen, denn das Göttliche wird erst durch den Menschen sichtbar. «Denn unfühlend ist die Natur: Es leuchtet die Sonne, über Bös‘ und Gute, und dem Verbrecher glänzen, wie dem Besten, der Mond und die Sterne.»

      Die Sonne taucht die Berge in rosa Licht. Die rot-gelben Blätter rascheln im Wind. Sarah berührt sanft Clas Arm. «Ich danke dir für diesen herrlichen Tag!»

      Das Restaurant Inez liegt bereits im Schatten, davor steht neben Clas Geländewagen ein roter Peugeot.

      In dem Moment taucht in Sarahs Augenwinkel Pascal auf. Er steuert auf sie zu.

      «Pascal!», ruft sie entgeistert.

      Er blickt sie wütend an, so wie nur der Liebste blickt, wenn er verletzt wurde. Ein angeschossenes Tier.

      «Das ist Cla», sagt sie. «Er hat mir mit den Gedichten geholfen.» – «Mein Freund», sagt sie zu Cla.

      «Schön dich kennenzulernen», sagt dieser ruhig.

      «Wir sehen uns unten!», sagt Pascal trocken.

      «Ich hoffe, du bekommst jetzt keine Probleme wegen mir», sagt Cla.

      «Wir haben nichts zu bereuen, oder?», fragt Sarah.

      Keiner von ihnen spricht mehr ein Wort. Die Gesteinsmassen drücken. Pascals Eifersucht mischt sich mit ihrem schlechten Gewissen. Sie versucht, die Gefühle auseinanderzudröseln.

      Cla streicht ihr ein letztes Mal über die Wange. «Du hast nicht gefragt», sagt er.

      Sie lächelt traurig.

      Mit hängenden Schultern betritt sie das Haus.

      Sie geht die Stufen hoch in ihr Atelier. Wird Pascal gleich mit dem Rad heimkommen? Wird er draussen auf die Nacht warten oder irgendwo ein Bier trinken? Auf dem Schreibtisch liegen Abzüge von Pascals neuster Arbeit. Daneben eine Lupe. Sie lässt sich auf den Stuhl fallen, betrachtet die Bilder des Geräteraumes der Sekundarschule und den Maschinenraum der Bergbahnen. Sie nimmt die Lupe zur Hand. Sie erkennt auf dem Gymnastikpferd ein eingeritztes Herz, darin eingraviert ein Schriftzug: «Sarah». Sie untersucht den Maschinenraum. Dort ist auf einer Schneekanone zu entziffern «I love Sarah».

      Sie freut sich auf den ersten Schnee.

      Im Windschatten

      Sie sitzt gerne auf einer Bank, obwohl das heutzutage niemand mehr tut, der nicht seinen Überfluss an Zeit zur Schau stellen will. Es wäre ja auch etwas unverschämt, über zu viel Zeit zu verfügen. Henriette sinniert gerne. Was das Parkbanksitzen in New York vom Parkbanksitzen in Rucol unterscheidet. Abgesehen von der Natur, um die man im Engadin schlecht herumkommt, es sei denn, man fände einen Reduiteingang, verbrächte die Tage im Stollen, und ignorierte fortan die Tatsache, im Berg zu wohnen, wie die Höhlenmenschen in Platons Gleichnis. In New York geniesst man die Natur im Park und verwechselt den Park mit der Natur. Die Pischana, der stattliche Hausberg Rucols, das ist Natur, aber so ein Central Park? Werden da nicht regelmässig Bomben deponiert?

      Henriette besitzt die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen. Nicht dass sie sich in Luft auflösen könnte, nein, nein. Vielmehr scheint sie alle von ihr ausgehenden Signale ausschalten zu können, um so chamäleongleich mit der Umgebung zu verschmelzen.

      Als sie nach und nach ihrem Rätsel auf die Spur kam, dass die Menschen sie nicht ignorierten, sondern sie oft schlichtweg nicht wahrnahmen, begann sie mit ihrer Gabe zu arbeiten. Sie verschaffte sich Zutritt in Regierungsgebäude und drang immer weiter in sensible Bereiche vor. Wurde sie aufgehalten, raunte sie dem Sicherheitspersonal «Passt schon» zu. So war sie jedes Jahr unsichtbarer Gast am Weltwirtschaftsvotum in Savon, wo sie Regierungs- und Konzernchefs bei der Völlerei beobachtete. Ihr Material verkaufte sie an Journalisten, bis sie irgendwann dazu überging, ihre Recherchen selber auf Youtube zu verbreiten. So wurde sie Journalistin wider Willen, da ihre Kollegen sie als Informantin schlecht bezahlten und obendrauf ihr Material als eigenes ausgaben. Alles muss man sich ja auch als Unsichtbare nicht gefallen lassen!

      Henriette entwickelte sich über die Jahre hinweg allmählich zum Vollprofi und bietet heute Kurse in Unsichtbarwerdung an.

      Die meisten wollen unsichtbar werden, weil sie sich dadurch erhoffen, der Realität entfliehen zu können. Diesen Kandidaten erteilt Henriette eine Absage. Unsichtbar zu sein, erfordert ein Höchstmass an Konzentration und ein reines Herz, um die Macht nicht zu missbrauchen. Bis heute weiss sie nicht, wie viele Agenten fremder Dienste sie ausgebildet hat, sie hofft natürlich keine, aber eine hundertprozentige Garantie hat sie schliesslich nie. Deshalb arbeitet sie am liebsten mit Kindern und Jugendlichen.

      Ihre beste Auszubildende ist Louisa. Sie besucht die Sekunda am Hochalpinen Institut in Rtan. Kennengelernt haben sie sich auf der Parkbank beim Schwimmbad Badras. Es scheint einen Code zu geben, der Parkbanksitzende miteinander verbindet.

      In der Garage, die Henriette als Seminarraum dient, üben sie heute das Teetrinken; wie man Kekse