Inhalt
Der Zufall kann zum Schicksal werden
Ganz bei der Sache war Helmut Sommer nicht, als er von der Baustelle kommend zu seinem Wagen ging. Es klappte mal wieder nichts, die Termine waren überschritten, der Bauherr hatte ihm zornige Vorhaltungen gemacht.
Helmut Sommer war ein junger Architekt und froh, diesen Auftrag bekommen zu haben. Er hatte verbindlich zugesagt, daß das Haus am nächsten Ersten bezugsfertig sein würde, aber er hatte nicht damit gerechnet, ausgerechnet vom Installateur im Stich gelassen zu werden.
Ein Unglück kommt selten allein, auch für ihn sollte das gelten. Da kam ein Junge auf einem Rennrad dahergebraust, und er konnte gerade noch zur Seite springen. Aber er stürzte, und seine Hand suchte ausgerechnet da Halt, wo Scherben lagen. Er blutete fürchterlich, aber der Junge raste weiter, ohne sich nach ihm umzuschauen. Gerade zehn Jahre mochte er sein, sein hellblondes Haar flatterte im Wind. Im Unterbewußtsein nahm Helmut alles wahr. Der Junge trug einen blauen Anorak und Jeans, auf dem Gepäckträger lag eine orangefarbene Schultasche.
Dann erst sah er, wie stark seine Hand blutete. Es war die rechte Hand. Mit der linken griff er in die Hosentasche und zog das Taschentuch hervor und wickelte es fest um die Wunde.
»Depp«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Nun wird sich Andrea wieder aufregen.«
Er redete noch mit sich selbst, als er zum Wagen ging. So darf ich nicht heimkommen, dachte er, sonst dreht sie ganz durch. Und dann erinnerte er sich, daß ein paar Straßen weiter die Praxis von Dr. Norden war.
Die Wunde begann schon höllisch zu schmerzen. Nur mühsam konnte er den Autoschlüssel herumdrehen. Er war ein ausgemachter Rechtshänder. Mit der linken Hand konnte er gar nichts anfangen. Und außerdem mußte er immerzu an seine Frau Andrea denken, die ihr erstes Kind erwartete und sich in diesem Zustand über jede Kleinigkeit aufregte.
Sein Taschentuch war blutdurchtränkt, als er in Dr. Nordens Praxis taumelte.
Die Arzthelferin Loni war allerhand gewohnt und fiel nicht gleich in Ohnmacht, aber bei der Blutspur, die Helmut Sommer hinterließ, wurde es ihr doch fast schwindlig.
»Schnell, ganz schnell, Herr Doktor!« konnte sie gerade noch in die Sprechanlage hauchen. Und darauf kam Dr. Norden auch schon aus seinem Sprechzimmer herausgestürzt. Da mußte Frau Mill mit ihrer chronischen Gelenkentzündung halt warten, denn viel konnte man dagegen doch nicht mehr tun.
Und Dr. Norden fragte auch nicht mehr lange, denn er sah, daß es dem Patienten schon ganz schwummerig war.
Er zog eine Injektion auf und beobachtete ein paar Minuten die Wirkung. Dann begann er, die Glassplitter aus der Wunde zu entfernen.
Helmut Sommer spürte keinen Schmerz mehr, aber er war sehr benommen durch die Betäubungsspritze. Und unter dieser Wirkung begann er zu reden.
Er erzählte, wie das passiert war. Und Dr. Norden horchte auf, als er den Jungen genau schilderte.
»Andrea wird sich schrecklich aufregen. Sie erwartet nämlich ein Baby. Der Gynäkologe hat gesagt, daß sie an einer Schwangerschaftspsychose leidet. Sie denkt nur dauernd daran, daß Sonjas Kind tot geboren wurde. Sonja ist die Schwester von meiner Frau, müssen Sie wissen. Ich muß fit sein, wenn ich heimkomme. Sie regt sich schon auf, wenn ich nicht pünktlich bin.«
Dr. Norden wußte genug über werdende Mütter, aber er wußte auch, daß dieser Patient sich in einem kritischen Zustand befand.
»Darf ich Ihren Namen erfahren?« fragte er freundlich, um wenigstens festzustellen, wieweit er noch ansprechbar war.
»Helmut Sommer, dreißig Jahre alt, Architekt. Ich habe eine Baustelle in der Nähe und damit genug Sorgen. Und nun muß mir das passieren.«
»Das Haus vom Direktor Rogner etwa?« fragte Daniel Norden beiläufig.
»Ganz recht. Sie kennen ihn?«
»Ja, recht gut.«
»Er hat sich aufgeregt, weil es ein paar Tage länger dauern wird, aber meine Frau ist mir jetzt wichtiger«, sagte Helmut Sommer. »Blut kann sie schon gar nicht sehen.«
»Sie wird nichts sehen. Die Wunde ist geklammert. Ich lege Ihnen einen Verband an und bringe Sie dann heim. Selbst fahren dürfen Sie jetzt nicht. Die Spritze wirkt noch nach.«
»Sie sind aber sehr nett«, sagte Helmut Sommer.
»Ich habe die Verantwortung«, erwiderte Dr. Norden. »Loni, rufen Sie bitte meine Frau an, daß ich später komme.«
*
»Kann man mit Herrn Rogner nicht vernünftig reden?« fragte Dr. Norden, als sie unterwegs waren. »Auf ein paar Tage dürfte es doch nicht ankommen.«
»Aber er muß sein Haus räumen. Das hatte er nur gemietet. Ich verstehe ihn ja«, sagte Helmut Sommer. »Es wäre auch alles fertig, wenn der Bichler nicht krank geworden wäre.«
»Er ist aber sehr krank«, sagte Dr. Norden. »Auch ein Patient von mir. Doch jetzt denken wir mal lieber an Ihre Frau. Im wievielten Monat ist sie denn?«
»Im siebenten, und der soll besonders kritisch sein. Ich habe schreckliche Angst um sie, Herr Doktor. Sie ist so sensibel, und Sonja trägt auch nicht zu ihrem Wohlbefinden bei. Ich verstehe ja, daß eine Frau ängstlich ist, wenn sie mal ein Kind verloren hat.«
Zum Glück war es noch verhältnismäßig gut ausgegangen. Dr. Norden ahnte, wer der Übeltäter war, nämlich ausgerechnet Achim Rogner. Aber müßte Helmut Sommer den nicht eigentlich kennen?
Doch er konnte seinen Verdacht nicht so einfach äußern. Allerdings kam ihm eine Idee. Er konnte einen Umweg machen, vorbei an Rogners Haus.
»Sie könnten Herrn Rogner gleich sagen, was Ihnen für ein Mißgeschick passiert ist«, schlug er vor. »Wir können da mal kurz halten.«
»Sie sind zu nett, Herr Doktor«, sagte Helmut Sommer. »Ich kann Ihre Zeit doch nicht so lange in Anspruch nehmen.«
»Die paar Minuten machen nichts aus.« Daniel Norden hatte mit Achim Rogner auch noch ein Hühnchen zu rupfen, denn er hatte, auch mal wieder auf dem Fußweg fahrend, um ein Haar seinen kleinen Sohn Danny angefahren, als Fee mit ihm spazierenging.
Als sie vor dem Haus hielten, sah Helmut Sommer auch schon das Fahrrad, und er sah auch den Jungen mit dem langen hellblonden Haar und dem blauen Anorak.
»Da legst di nieder«, entfuhr es ihm. »Das ist doch das Bürscherl.« Und schon war er ausgestiegen und mit ein paar Schritten bei dem Missetäter. Dr. Norden wurde gleich gewahr, daß er den Jungen noch nicht kannte und ihn in keine Beziehung zu den Rogners brachte. Aber gerade das war gut, denn nun hatte Helmut Sommer keine Hemmungen.
Mit der gesunden Hand hatte er ihn am Arm gepackt, recht fest, so daß Achim ihm nicht entkommen konnte.
»Da hab’ ich dich ja erwischt, du Lauser«, sagte er
energisch. »Dir macht es wohl gar nichts aus, Leute über den Haufen zu fahren und einfach weiterzuradeln. Schau dir mal an, wie ich zugerichtet bin. Und jetzt sagst du mir deinen Namen.«
»Sag ich nicht«, erwiderte der Junge frech.