New Hope City. Severin Beyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Severin Beyer
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Научная фантастика
Год издания: 0
isbn: 9783957771421
Скачать книгу
Rivera es genau. Der Cyberspace war unsichtbar, er war mehr ein abstraktes Gefühl. Hätte Rivera eine Farbe wählen müssen, um ihn zu beschreiben, dann hätte er wohl Grau gewählt. Ein Grau, das auf der Quantenbasis von Überlagerungszuständen existierte, die er genauso wahrnahm wie die Metagebilde, die diesen Raum durchzogen: die Programme.

      Nein, das Netz war kein bunter Ort ungeahnter Möglichkeiten, beeindruckender Welten oder großer Abenteuer. Im Netz erschufen Gedanken auch nicht innerhalb von Sekundenbruchteilen ganze Programme oder Welten, wie es sich die Science Fiction-Autoren der Vergangenheit erträumt hatten. Als Netwalker zu programmieren war sehr viel mühseliger, denn auch Gedanken brauchten ihre Zeit, um konkret zu werden. Das einzige, womit die Denker der Vergangenheit recht behalten hatten, war die Tödlichkeit des Cyberspaces. Eine unachtsame Firewall, schon verarbeitete ein Virus den eigenen Verstand zu Gemüse, im schlimmsten Fall für immer. Deswegen war es auch verboten, sein Bewusstsein ans Netz zu koppeln. Wie nicht anders zu erwarten, gab es nichtsdestoweniger eine ganze Szene von Netwalkern, meist Wannabe-Rebellen, die irgendetwas gegen die Gesellschaft im Allgemeinen und das Establishment im Besonderen hatten. Unbestätigten Gerüchten zufolge setzten auch zahlreiche Regierungen in der Cyberkriegsführung auf Netwalker. Doch das waren – wie gesagt – nur Gerüchte.

      Rivera startete seine Analyseprogramme, um das Netz in seinem Bewusstsein zu strukturieren. In ein paar Stunden sollte er mit den Videoaufzeichnungen fertig sein. Dann wäre er vorerst vor der Polizei sicher. Vorerst. Denn Rivera wusste, dass er erst wieder in Ruhe seiner Jagd nachgehen konnte, wenn er für die Ermittler uninteressant würde. Überließ er dies tatsächlich dieser Pfeife Steiner und seinen unfähigen Kollegen, dann konnte das noch verdammt lange dauern. So lange wollte der Killer nicht warten.

      Jemand musste die Mumienmorde aufklären, damit die Bürger New Hopes und vor allem Rivera selbst wieder ruhig schlafen konnten. Und dieser jemand war er. Darin war sich der Killer mit einem dezenten Schuss Größenwahn sicher. Das war irgendwie absurd.

      Am Abend desselben Tages war Rivera tot.

      *

      Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Offenes Feuer war in den Unterebenen New Hopes verboten, doch in den verlassenen Bezirken störte es niemanden. Selbst wenn eine der seltenen Patrouillendrohnen die Rauchsäule aufspüren sollte, hätte Rien sein Rindersteak schon längst verdrückt, bis die Polizei bei ihm war. Er musste unbedingt etwas gegen das flaue Gefühl in seinem Magen unternehmen. Rien wusste nicht, ob es daher kam, dass er schon seit zwei Tagen nichts mehr gegessen hatte, oder daher, dass er allmählich dem Entzug gefährlich nahe kam.

      Unglaublich, dass er sich mit einem Rindersteak vollstopfen würde. Es lag sicher Jahre zurück, dass er echtes Fleisch zwischen die Zähne bekommen hatte. Der Qualm der brennenden Ökoverpackungen, die er aus mehreren öffentlichen, vor Müll überquellenden Recyclingbehältern gefischt hatte, verpassten dem tierischen Überbleibsel zwar einen rauchigen Geschmack, ebenso fehlten Salz und Pfeffer, aber da er ansonsten vollkommen mittellos war, gab es keinen Grund zur Klage.

      Dem seltsamen transhumanen Typen musste er echt penetrant auf die Nerven gegangen sein. Nur so konnte sich Rien das Stück Steak erklären. Wobei er nicht das Gefühl hatte, dass er seinen Rauswurf selbst verschuldet hätte. Nicht dieses Mal. Vielleicht hatte es etwas mit dem Kommissar zu tun gehabt?

      Ein Rascheln schreckte Rien auf. Aber zwischen den Ruinen aus kaltem Beton entdeckte er nichts weiter als ein einsames Graffiti, das vollkommen allein und verloren auf den Weiten einer im Nichts endenden Wand gesprayt war. Es war sehr klein geschrieben. Rien stand auf und ging mehrere Schritte darauf zu, um es zu lesen:

      Denn wir werden dann immer noch hier sein, wir, die Narben dieser Welt.

      Remo

      Rien erstarrte. Er kannte diesen Satz. Dies waren der letzten Worte seines Romanmanuskripts. Nur wie kamen sie an diese Wand? Er hatte seinen Roman nie veröffentlicht, nicht einer Seele davon erzählt. War er vielleicht früher schon einmal hier gewesen? Im Rausch, sodass er sich nicht mehr daran erinnerte, dass er es selbst an die Wand gesprayt hatte? Aber das war nicht seine Schrift.

      Denn wir werden dann immer noch hier sein, wir, die Narben dieser Welt … Diese Worte stammten von Remo, dem sprechenden Tiger. Sie sollten das Wesen aufmuntern, zu dem der Priester Primus und der gefallene Seraph Lazaliel verschmolzen waren. Ein Wesen, das in den kommenden Jahrhunderten nach und nach vergessen wird, wer es einmal war, nur um sich dann allmählich wieder zu erinnern. Dann würde Remo endlich erfahren, warum Lazaliel wirklich die Götter stürzen wollte. Aber dieser Teil der Geschichte lag außerhalb des Romans.

      Das plötzliche Auftauchen des Graffitis war für Rien wie das Hereintreten einer anderen Wirklichkeit. Als ob ihm der universale Code der Weltformel etwas mitteilen wollte. Lag es am Blue? Vor kurzem erst hatte er eine geringe Menge davon probiert, aber nichts davon gemerkt, wahrscheinlich, weil er es mit anderen Drogen zusammen eingeworfen hatte. Vielleicht war das die Quittung dafür.

      Er schaute über die Mauer hinweg und ließ seinen Blick steil nach oben gleiten. Dort wären die Wasser des Atlantiks zu sehen gewesen, aber in diese Tiefe des Meeres drang kein Licht vor, es wurde vom Ozean sprichwörtlich verschluckt. Die doppelte Außenverkleidung New Hopes aus einem durchsichtigen Spezialpolymer, die den unter dem Meeresspiegel liegenden Teil der Metropole von dem sie umgebendem Wasser abschirmte, war eine schöne Idee gewesen. Doch nur auf der obersten Unterebene, der sogenannten Upper Class, entfalteten die durchsichtigen Doppelwände ihren Reiz, wo die Bewohner New Hopes von innen das Brechen der Wellen beobachten konnten. Hier unten in der Undercity hingegen war die Schwärze einfach nur bedrohlich. Rien erahnte die Macht der zurückgehaltenen Naturgewalten. So mussten sich die Israeliten gefühlt haben, als sie unter Moses‘ Führung das Rote Meer durchquerten. Würden die Außenverkleidungen jemals brechen, würde die todbringende Flut Millionen verschlucken. Natürlich gab es innerhalb der Stadt zahlreiche Schutzschleusen, aber wer wusste schon, ob die im Ernstfall erneut hielten?

      Rien fröstelte. Kein Wunder, dass die Außenbezirke bei diesem Anblick gar nicht erst fertiggestellt worden waren. Täglich die Fragilität der eigenen Existenz vor Augen … Er drehte sich um.

      Zuerst erfüllte ihn tiefe Ungläubigkeit. Dann stieß er einen wehleidigen Schrei zutiefst empfundener Ungerechtigkeit aus: Eine schwarze Katze machte sich über sein Steak her! Neeeeiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinnnnnn! Das war eine ganz andere Fragilität der Existenz, die ihm hier vor Augen geführt wurde! Entsetzt stürzte sich Rien auf das Tier, um es zu verscheuchen. Aber das Viech fauchte ihn derart bösartig an, dass der junge Mann erschrocken zurückzuckte.

      Was auch immer sein Fleisch wegfraß, es war keine Katze. Wahrscheinlich waren es die Nachwirkungen der Black Light, aber je länger der junge Mann das Tier ansah, desto überzeugter war er davon, dass es längst ausgestorben war.

      »Du bist ein Tasmanischer Teufel«, stellte Rien ernüchtert fest, da ihm beim besten Willen nicht einfiel, was er sonst machen sollte, als das Offensichtliche auszusprechen »Dich gibt es gar nicht mehr. Du dürftest gar nicht hier sein.« Aber die Realität schien es heute mit den Fakten nicht ganz so ernst zu nehmen. Erst das Graffiti und jetzt das.

      Er versuchte sich der Kreatur zu nähern. Doch nachdem er ein weiteres Mal auf dieselbe bösartige Weise angefaucht wurde, ließ er es bleiben und schaute dem Teufel unglücklich dabei zu, wie er die Mahlzeit verspeiste, auf die er sich gerade noch gefreut hatte.

      Das Tier war auf eine beunruhigende Art fremd, unwirklich, Rien konnte sich zuerst gar nicht erklären, warum. Er bemerkte, dass es kein Fell hatte, sondern auf eine merkwürdige Art metallisch wirkte. Nicht auf die Art metallisch, wie eine Maschine. Sondern als ob die Kreatur aus einem pulsierenden, biologischen, schon beinahe lebendigen Erz bestünde. Das war definitiv eine Drogennachwirkung, vielleicht auch schon eine Entzugserscheinung. Der Teufel war wahrscheinlich nicht halb so gefährlich wie er aussah, und außerdem handelte es sich dabei sicherlich nur um eine Katze. Es wurde für Rien schleunigst Zeit, das Viech wegzuscheuchen und die Reste seiner Mahlzeit zurückzuerobern. Wenn es so weitergehen würde, dann würde ihm vom Entzug bald übel werden. Bis dahin musste er das Steak verdaut haben, wenn er es nicht wieder auskotzen wollte.

      Mit neuer Entschlossenheit