“Lash (Gefallener Engel 1)”
Copyright © der Originalausgabe 2013 by L.G. Castillo.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by L.G. Castillo.
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BÜCHER VON L.G. CASTILLO
1
Lash betrachtete eingehend die Anzeige mit den ankommenden Flügen. Verwirrt suchten seine haselnussbraunen Augen die Liste der Flüge ab, die in Houston Airport landeten und starteten.
»1742, 1742…«, murmelte er. Die Buchstaben und Zahlen von Flugnummern und Städten blätterten um, als sich die Ankunftsgates änderten. »Verdammt. Wie liest man dieses Ding?«
Er fuhr sich verärgert mit einer Hand über das dunkle Haar. Ein Seraph sollte in der Lage sein, etwas so Simples wie das Ankunftsgate seines Arbeitsauftrages zu finden.
Lash seufzte und warf einen Blick auf die Informationen, die ihm Erzengel Gabrielle, seine direkte Vorgesetzte, gegeben hatte. Wie sein Glück es so wollte, war er dem einen Erzengel unterstellt worden, der seine Misere auskostete. Er traute ihr durchaus zu, ihm absichtlich die falschen Fluginformationen gegeben zu haben, damit er gezwungen war, sich in den letzten Minuten abzuhetzen, um seinen Schützling zu finden.
»Javier Duran, acht Jahre alt. Flug 1724, Ankunft 12.05 Uhr«, las er. Er drehte die Karte um und sah auf das Foto des kleinen Jungen mit heller, kaffeefarbener Haut, Pausbäckchen und großen, braunen Augen.
»Wo ist dein Flugzeug, Kleiner?« Er blickte erneut auf, als die Nummer 1724 auf der Anzeigetafel erschien.
»Endlich.« Er merkte sich die Gatenummer und bahnte sich seinen Weg durch die belebte Menge.
»Was? Ich kann dich nicht hören!« Eine junge Frau schrie in das Münztelefon. »Nein, sein Flugzeug ist noch nicht gelandet. Es sollte in wenigen Minuten hier– «
Die Frau brach mitten im Satz ab und Lash drehte sich nach ihr um, neugierig zu sehen, was geschehen war. Die Frau blinzelte ihn durch ihre pink-getönte Brille direkt an.
Er zuckte überrascht zurück. Es war, als könnte sie ihn sehen. Die meisten Menschen konnten das nicht, wenn er seine Engelsgestalt annahm – abgesehen von kleinen Kindern oder Tieren, aber selbst das war selten. Wenn Erwachsene einen flüchtigen Blick auf ihn erhaschten, taten sie ihn häufig als ein Gebilde ihrer Fantasie ab.
»Anita, qué pasó?«, fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Was ist los?«
»Warte mal kurz, Gloria.« Anita nahm ihre Brille ab und säuberte die Gläser an ihrer geblümten Polyesterbluse.
Lash stand bewegungslos und wartete ab, um zu sehen ob sie etwas über seine Anwesenheit sagen würde. Anita setzte ihre Brille wieder auf und ihre braunen Augen schossen erneut in seine Richtung. Einen Augenblick später schüttelte sie den Kopf und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Anrufer.
»Nicht so wichtig. Ich dachte, ich hätte was gesehen.«
Er atmete aus – sie hatte ihn doch nicht gesehen; zumindest nicht mehr, als den flüchtigen Schimmer, den andere manchmal zu sehen behaupteten.
»Gib mir die Info nochmal. Ich muss das aufschreiben.« Anita kramte in ihrer Handtasche und zog ein Stück Papier heraus. Süßigkeiten- und Kaugummipapier fiel auf den Teppich, zusammen mit einem schwarzen Stift. »Wo ist mein Stift? Ich finde in dieser Tasche überhaupt nichts mehr.«
»Richte ein Gebet an den heiligen Antonius.«
»Gute Idee.« Anita schloss die Augen. »Sankt Antonius, Sankt Antonius. Bitte komm herab. Etwas ist verlorengegangen und kann nicht wiedergefunden werden. Hilf mir, meinen Stift zu finden, damit ich die Infos aufschreiben kann, die Gloria mir diesen Morgen hätte geben sollen, bevor mein achtjähriger Sohn ganz allein das Flugzeug bestiegen hat. Und wenn du schon mal dabei bist, kannst du den Herrn bitten, Gloria ihre Vergesslichkeit zu vergeben? Sie muss meinen Exmann ertragen, und Gott allein weiß, wie hilflos dieser Mann ist – besonders, wenn es darum geht, seine Unterwäsche zu waschen.«
»Das ist genug gebetet«, fauchte Gloria am anderen Ende der Leitung.
Er lachte leise in sich hinein. Es gab keinen heiligen Antonius – zumindest nicht am Flughafen. Er hob den Stift auf und legte ihn auf die Kante der Ablage am Münztelefon.
Anita schauderte. »Dios mío, mir ist ganz kalt geworden. Sie halten es kühl hier drinnen. Sie sollten –« Ihre Augen weiteten sich, als sie den Stift sah. »Wie ist der denn hier hingekommen?«
Anita drehte sich um und er erstarrte. Sie stand Nasenspitze an Nasenspitze mit ihm – so dicht, dass er ihren Pfefferminz-Atem riechen und einen Lippenstiftfleck auf ihrem Vorderzahn sehen konnte. Sie schloss die Augen und lächelte. »Gracias, Sankt Antonius. Ich bin gesegnet.«
Lash blinzelte verblüfft. Es war lange her, dass er einem Menschen wie ihr begegnet war. Eine Aura des Friedens umgab die winzige, dunkelhaarige Frau, als ob sie wüsste, dass sie über sie wachten.
Er sah zur Uhr und verließ Anita, die sich weiter mit Gloria unterhielt. Das Flugzeug des Jungen sollte bald landen. Während er durch die Halle eilte, fragte er sich, ob Anitas Sohn sein Auftrag war.
Als er das Gate erreichte, sah er aus dem großen Fenster hinaus auf die Landebahn, wo das Flugzeug sich hätte befinden sollen. Stattdessen stand sein bester Freund Jeremy auf dem Rollfeld. Er war tadellos gekleidet, was ihn mehr nach einem Model vom Cover des GQ Magazines aussehen ließ, als nach dem Erzengel des Todes. Sein goldenes Haar, das nach hinten aus dem Gesicht gestrichen war, schimmerte in der texanischen Sonne. Lash fand es ziemlich merkwürdig, dass ihm sein Äußeres so wichtig war, wenn man bedachte, dass er selten in seiner menschlichen Form erschien. Die meisten Menschen kannten ihn nur unter seinem Engelsnamen Jeremiel und wenn er ihnen erschien, lag das daran, dass sie im Sterben lagen.