Vor dem Fall: Gefallener Engel 3
“Vor dem Fall (Gefallener Engel 3)”
Copyright © der Originalausgabe 2014 by L.G. Castillo.
Copyright © der deutschsprachigen 2020 by L.G. Castillo.
Alle Rechte vorbehalten.
BÜCHER VON L.G. CASTILLO
1
Geräuschlos versteckte sich Naomi zwischen den wuchernden Büschen hinterm Haus ihrer Großmutter und achtete darauf, dass sie sich nicht die Arme zerkratzte.
Als sie das Knirschen von Kies hörte, hielt sie den Atem an. Jemand war in der Nähe ihres Verstecks.
Dann zog eine Hand sie an einem ihrer dicken Zöpfe.
»Autsch, Chuy! Verschwinde! Such dir dein eigenes Versteck.«
»Ach komm schon, Naomi«, entgegnete ihr Cousin. »Ich will nicht, dass Lalo mich zuerst findet.« Er streckte seinen dünnen Arm erneut aus, um sie an den Haaren zu ziehen.
Sie schlug seine Hand beiseite. »Das hast du davon, wenn du mit ihm um deine Luke-Skywalker-Puppe wettest.«
»Es ist keine Puppe. Es ist eine Actionfigur.«
»Ja klar.«
»Bitte, Naomi. Du bist kleiner als ich. Du kannst dir ein anderes Versteck suchen.«
Die siebenjährige Naomi musterte ihren Cousin Chuy verächtlich. Es war nicht das erste Mal, dass er versuchte, beim Versteck-Spielen mit seinem besten Freund Lalo Cruz und den anderen Kindern des Viertels zu schummeln. Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass sie nett zu ihm sein sollte. Chuy hatte vor einigen Jahren seine Eltern verloren. Er lebte bei ihrer Großmutter, Belita. Jeden Sommer verbrachte Naomi zwei Wochen mit Belita und Chuy. Sie liebte es, obwohl Chuy sie ständig ärgerte.
Sie drehte sich um und spähte durch das Gebüsch.
»Ich weiß nicht.«
Chuy rieb seine Hand gegen Naomis Nacken und murmelte eine Beschwörungsformel: »Ich wünsche mir, dass Naomi verschwindet und sich ein neues Versteck sucht.«
»Lass das Chuy!« Sie schlug seine Hand beiseite. Seitdem er den Fleck Sommersprossen vor zwei Wochen beim Schwimmen entdeckt hatte, hatte er immer wieder daran gerieben und sich Dinge gewünscht. Er behauptete, dass der Fleck aussah wie die Zahl sieben und dass er also Glück bringen musste.
Eine rundliche braune Hand Griff ins Gebüsch und Lalo rief: »Du bist dran!«
»Mensch, Chuy! Jetzt guck, was du angerichtet hast.« Sie stapfte aus dem Gebüsch.
»Chuy, Naomi!«, ertönte Belitas Stimme in der Ferne. »Das Mittagessen ist fertig!«
»Ohhh, was gibt es denn?«, fragte Lalo, als sie alle zur Vorderseite des Hauses stürmten.
»Hühnchen-Mole«, erwiderte Chuy.
»Mein Lieblingsessen.«
»Das sagst du bei allem, was Belita kocht.«
»Weil es stimmt.«
»Du solltest Belita besser fragen, ob Lalo bei uns essen kann«, warf Naomi ein und rang nach Luft.
»Belita, kann Lalo bei uns Mittag essen?«, bat Chuy, als sie die Veranda an der Vorderseite des Hauses erreichten.
Belita stand auf der obersten Stufe und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Er isst doch jeden Tag bei uns Mittag.«
Sie sah Lalo über ihre pinkgetönten Brillengläser an. »Wundert sich deine Mutter nicht, wo du bleibst?«
»Nein, ich hab ihr gesagt, dass ich hier bin und dass du die beste Köchin in ganz Houston bist. Da hat sie ihre Chancla nach mir geworfen und angefangen, zu schreien. Ich glaube, sie ist wütend.«
Naomi kicherte bei der Vorstellung daran, wie der Flipflop seiner Mutter durch die Luft segelte. Sie wusste, dass es nur eine harmlose Geste gewesen war. Aber eigentlich hätte er es besser wissen müssen. Die Kochkünste einer Frau beleidigte man nicht ungestraft.
»Ay, Dios mío.« Belita zog ein Geschirrtuch aus der Tasche ihrer Schürze und wischte sich die Stirn ab. »Ich muss nachher mit ihr sprechen und das wiedergutmachen. Keine Sorge, Lalo, ich bieg das schon wieder hin.«
»Danke, Belita«, sagte er und stürmte mit Chuy die Verandastufen hinauf.
»Naomi.« Belita legte ihr eine Hand auf die Schulter, als sie die letzte Stufe erreichte. »Würdest du die Bettwäsche von der Leine nehmen? Ich habe sie heute Morgen aufgehängt. Sie müsste jetzt trocken sein.«
»Aber bis ich fertig bin, haben Chuy und Lalo alles aufgegessen. Die Hälfte ist bestimmt jetzt schon weg.«
»Ich verspreche dir, dein Mittagessen wird auf dich warten, wenn du reinkommst. Es wird ja nicht lange dauern.«
»Na gut.« Naomi sprang von der Veranda und lief in den Hinterhof, wo Belita die Bettwäsche zum Trocknen aufgehängt hatte. Sie wusste schon, was sie sich dieses Jahr zu Weihnachten von ihren Eltern wünschen würde – einen Trockner für Belita.
Als sie um die Ecke bog, hörte sie, wie Belita rief: »Ay, hört doch auf so zu schlingen. Jetzt muss ich für Naomi und mich mehr machen.«
Naomi wurde langsamer. Es war nicht mehr nötig, sich zu beeilen.
Die weißen Laken flatterten im Wind. Sie legte die Hand an eines. Es war trocken. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und und griff nach den Wäscheklammern.
Als sie das Laken gerade zusammenfalten wollte, sah sie aus dem Augenwinkel, wie sich hinter dem anderen Laken ein Schatten bewegte.
»Ha ha, Chuy. Du kannst mir keinen Schreck einjagen. Ich weiß, dass du –«
Ihr blieb der Mund offen stehen, als eine Frau auf sie zuschwebte