Der Kuss des Feindes. Titus Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Titus Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961224111
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      Über den Autor

      Titus Müller studierte in Berlin Literatur, Mittelalterliche Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift »Federwelt«. Seine Ratgeber und historischen Romane begeistern viele Leser. Titus Müller ist Mitglied des PEN-Club und wurde u. a. mit dem »C. S. Lewis-Preis« und dem »Sir Walter Scott-Preis« ausgezeichnet.

      Die Erstausgabe dieses Romans erschien 2012 im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.

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      1

      Hast du den Verstand verloren?« Jonathans Hals wurde rot vor Zorn.

      Savina lachte. Sie schnippte eine weitere Handvoll Taubenmist aus dem Loch nach draußen. Es machte ihr Spaß, ihn zu ärgern.

      »Hör auf damit!« Er ließ die Schaufel fallen und kam durch den Taubenschlag auf sie zu.

      Sie grinste, reckte sich und spähte durch das Einflugloch nach draußen.

      »Du bringst uns in Gefahr«, sagte er. »Wenn ein Araber deinen Kopf im Taubenloch sieht, stürmen sie unser Versteck. Dann hast du die ganze Höhlenstadt auf dem Gewissen.«

      »Ich hab aber nicht nur ein Gewissen, sondern auch ein Herz. Und das will nicht in diesen Höhlen versauern. Es will frei sein.«

      »Wenn erst mal die Frauen kreischen und die Kinder von Schwertern durchbohrt werden, redest du nicht mehr so.«

      »Wir haben den ganzen Sommer verpasst.«

      »Wir haben überlebt.«

      Was war das für ein Leben, über Monate in der Dunkelheit eingesperrt zu sein? Die Tauben hatten es gut. Sie konnten jederzeit rausfliegen in die Sonne, konnten über den Tälern schweben und sich auf den Felsen ausruhen. Sie waren frei.

      Den Taubenkot vom Höhlenboden zu kratzen, war die unappetitlichste Arbeit, die es in Korama gab. Aber man sah die Sonne dabei, wenigstens für ein paar Stunden, Lanzen aus Licht, die durch die Einfluglöcher in den Taubenschlag fielen und grellweiße Flecken auf den Felsenboden malten. Das war jedes Opfer wert. Und wenn sie sich wie jetzt auf die Zehenspitzen stellte, fielen sogar Sonnenstrahlen in ihr Gesicht und wärmten die Haut. Sie genoss es eine Weile, dann drehte sie sich wieder um. »Komm schon, Jon, sei nicht so langweilig. Wir haben genug gearbeitet. Mir tun die Arme weh, ich brauche eine Rast.«

      Er hob die Schaufel vom Boden auf, lehnte sie an die Felswand und kam herüber. »Gib mir deine Hand.«

      Sie legte ihre Hand in seine.

      Zärtlich strich er über ihre Finger. »Savina, was kann ich tun, damit du es dir noch einmal überlegst?«

      Sie musste ihm sagen, dass er sich den Hochzeitstraum aus dem Kopf schlagen sollte. Hart musste sie es ihm sagen, gemein sein, dann würde er es begreifen. Aber sie wollte nicht seine Freundschaft verlieren. Ihn zu verletzen, tat ihr weh, weil sie ihn mochte. Savina zog seine Finger nah vor ihr Gesicht und begutachtete sie. »Du bist grün und schwarz von der beschissenen Taubenkacke.« Sie roch an den Fingern. »Und du stinkst wie Schweinepisse!« Sie stieß die Hand von sich. »Komm, wir spielen was. Wenn ich es schaffe, mit nur einer Hand eine Taube zu fangen, musst du diese Ecke« – sie zeigte neben den niedrigen Höhleneingang – »allein abkratzen, während ich in die Sonne gucke und faulenze.«

      »Und wenn ich es schaffe?«

      »Dafür bist du zu langsam.«

      »Wenn ich eine Taube fange, küsst du mich«, sagte er.

      Ihre Blicke hakten sich für einen Moment ineinander, und zu Savinas Erstaunen schlug ihr Herz schneller. »Einverstanden.«

      Sie schlich sich an die Nischen heran. Die Wand war davon übersät, aber die meisten Tauben waren ausgeflogen, als Savina und Jon mit der Arbeit begonnen hatten. Nur wenige Vögel waren hiergeblieben und äugten vorsichtig aus ihren Nistlöchern. Ihr Gurren verstummte, als Savina sich näherte. Sie sagte leise: »Kommt, holt euch ein paar leckere Körner«, und machte eine hohle Hand. »Guckt mal, was ich hier für euch habe!«

      Blitzschnell griff sie in eine der Nischen und zerrte eine Taube heraus. Sie hatte sie nur am Flügel zu greifen bekommen. Die Taube zappelte wild und riss sich los. Federn stoben durch den Taubenschlag. Mehrere Vögel flatterten dicht unter der Decke entlang und flohen durch die Einfluglöcher ins Freie. Von draußen hörte man das Pfeifen ihrer Flügelschläge.

      Seltsam, da war trotzdem noch ein Gurren, und Jon sah sie glühend an, obwohl seine Hand doch leer war. Er holte die zweite Hand hinter dem Rücken hervor. Seine riesige Hand umschloss eine Taube. »Gewonnen«, sagte er.

      »Na gut, dann arbeiten wir weiter.« Savina sah sich um. »Sieh dir diesen mickrigen Haufen an. Das bisschen soll reichen?«

      Er trat an die Einfluglöcher heran und ließ die Taube fliegen.

      Sie sagte: »Der Dünger wird mager ausfallen. Schafdung und Eselmist haben wir zur Genüge, aber wenn wir zu wenig Taubenkot beimischen, machen uns die Pflanzen schlapp.«

      Seine Hand fasste sie an der Hüfte. »Savina«, sagte Jon, »seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe, liebe ich dich.« Er zog sie an sich und küsste sie.

      Sie spürte seine trockenen, warmen Lippen und seinen Brustkorb, der sich hob und senkte. Einen Augenblick kostete sie das Gefühl aus, dann befreite sie sich und sagte: »Spinnst du?«

      Zwei Stunden später kletterten sie stumm hinunter in die Tiefen Koramas. Jon trug den Korb mit dem Taubenkot, sie sah seinen breiten Rücken vor sich. Im Stillen dachte sie: Vielleicht heirate ich dich doch, Jon.

      2

      Arif fuhr mit den Fingerspitzen über die weiche, lederne Karte. Mit Kohlestrichen hatte sein Vater die Region festgehalten, vom großen Salzsee bis zum Vulkan Argaios, eine Miniatur der Wirklichkeit. Die Ortschaften, als ameisengroße Dächer eingezeichnet, waren sämtlich verlassen. Die Christen hatten sich in die Berge zurückgezogen. Seit Monaten lagerte sein Stamm hier in der Ebene und suchte sie. Wo in den Klüften hielten sie sich verborgen? Es musste ein schwer zugängliches Tal sein, von dem sie sich Schutz erhofften, ein Tal mit geheimen Zugängen. Arif rollte die Karte zusammen und wickelte den Riemen darum.

      Die Luft im Zelt war heiß wie in einem Backofen. Sonnenlicht blitzte durch die Nähte der schwarzen Stoffbahnen, und obwohl Kamelhautstricke das Zelt zwei Handbreit über den Boden hochrafften, brachte kein Windhauch Kühlung.

      Es roch nach Thymian und Kümmel. Auf dem kleinen Feuer kochten Bohnen. Die Mutter warf Dörrfleisch dazu. Als sie umrührte, quollen die Bohnen über den Topfrand, und einige fielen hinunter. Sie knisterten in den Flammen und wurden schwarz.

      Er erhob sich von seinem Sitzkissen, wickelte sich das weiße Kufiya-Tuch um den Kopf und schnallte sich den Schwertgurt um. Aus dem Krug goss er Wasser in einen Becher und trank. Dann stellte er den Becher ab, nahm seinen Sattel und das Zaumzeug und ging zum Zeltausgang.

      Die Mutter sagte: »Wohin gehst du? Was willst du mit dem Schwert?«

      »Ich reite aus.«

      »Deinen Bogen habe ich hinten zu den Gerbsteinen geräumt.«

      »Ich gehe nicht jagen. Ich spähe nach den Ungläubigen.«

      Die Mutter ließ den Löffel fallen, er versank in der Bohnensuppe. Es brauchte einen Moment, bis sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. Sie stammelte: »Niemand reitet allein zu den Ungläubigen.«

      Ihr Blick wollte ihn festhalten, aber Arif löste sich von ihm und trat nach draußen. Es tat gut, die stickige Enge des Zeltes zu verlassen. Im Freien wölbte sich das Himmelsblau wunderbar weit, und die Luft erfrischte die Lungen.

      Vater saß vor dem Zelt und zog einem Hasen das Fell ab. Fliegen umsurrten das nackte, rohe Fleisch und Vaters schwarzen Bart. Neben Haroun lagerte die Gepardin, den Kopf würdevoll erhoben. Ihr schlanker gefleckter Körper lag im Schatten, nur den Kopf beschien die Sonne. Die Raubkatze blickte, ohne zu blinzeln, auf die Berge am Horizont, mit Augen, die wie Bernsteine funkelten.