Der Landdoktor Classic 35 – Arztroman. Christine von Bergen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine von Bergen
Издательство: Bookwire
Серия: Der Landdoktor Classic
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783740962838
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      »Weißt du, wer uns geschrieben hat?«, fragte Ulrike Brunner ihren Mann beim Abendessen.

      Der Landarzt hob die graumelierten Brauen. »Nein.«

      Ulrikes blaue Augen glitzerten geheimnisvoll. »Sebastian.«

      »Das gibt es doch nicht!«, rief Matthias erstaunt aus. »Nach so vielen Jahren?«

      »Ja, nach so vielen Jahren«, erwiderte sein Lockenköpfle mit versonnenem Lächeln. »Ich habe mich riesig über sein Lebenszeichen gefreut. Und denk dir. Er kommt nach Ruhweiler.« Verzückt verdrehte sie die Augen. »Sebastian Kerner, der inzwischen international bekannte Künstler. Heute Morgen noch habe ich eine Besprechung über seine derzeitige Ausstellung in Hamburg gelesen. Er fragt an, ob er uns besuchen kann.«

      »Klar kann er das«, sagte der Landdoktor sofort. »Vielleicht sollten wir auch Dorothee und ihren Mann einladen. Und Thorsten. Unsere Kinder würden sich bestimmt auch freuen, Sebastian wiederzusehen.«

      »Thorsten wird nicht kommen können. Er ist noch zwei Wochen lang auf Tournee, aber Dorothee und Jan kommen bestimmt.«

      Matthias fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Hat Sebastian etwas dazu geschrieben, warum er sich acht Jahre lang nicht mehr hier hat blicken lassen?«

      Statt einer Antwort sah seine Frau ihn drei Lidschläge lang bedeutungsvoll an. Dann fragte sie: »Ahnen wir nicht beide den Grund?«

      »Ich weiß nicht. Wir könnten in unserer Vermutung auch völlig falsch liegen.«

      Ulrike hob die Schultern »Möglich. Auf jeden Fall lag es bestimmt auch daran, dass er in den vergangenen Jahren keine Zeit dafür gefunden hat. Seine Eltern leben nicht mehr, damit hat er auch keine enge Bindung mehr hierher. Außerdem wurde er über Nacht berühmt, was ja sehr selten ist in dieser Branche. Eine Ausstellung jagte die andere, wie wir in der Presse verfolgt haben. London, New York, ja sogar Japan, wo er auch zeitweise gelebt hat.«

      Matthias lächelte sein Locken­köpfle an. »Wie dem auch sei. Ich freue mich auf ein Wiedersehen.« Er schmunzelte in sich hinein. »Ein so bekannter Maler in unserem bescheidenen Heim … Diese Vorstellung gefällt mir. Ich rufe morgen unsere Tochter an. Übrigens …«, fiel ihm da ein. »Ich habe auch eine Neuigkeit für dich. Heute hat mir eine Patientin erzählt, dass Michaela wieder da ist. Sie will sich hier bei uns im Tal als Hebamme selbstständig machen.«

      Ulrike hob ihr Glas. »Darauf stoßen wir an. Diese Neuigkeiten versprechen spannend zu werden.«

      *

      »Hallo, Herr Bach«, begrüßte Schwester Gertrud am nächsten Morgen in kühlem Ton den großen sonnenbankgebräunten Mann im Nadelstreifenanzug. Dem dunkelhaarigen Mädchen an seiner Seite schenkte sie ein warmherziges Lächeln. »Na, mein Schatz, wie geht es dir denn heute?«

      Bevor die Achtjährige antworten konnte, sagte Philip Bach in der gehetzten Art, die jeder im Ruhweiler Tal kannte: »Sie hatte heute Morgen wieder einen Anfall. Der Doktor soll sie noch einmal untersuchen. Ich kann leider nicht warten. Meine Schwiegermutter kommt gleich und holt sie wieder ab. Ich muss zum Flughafen.«

      »Wohin geht’s denn diese Woche?«, erkundigte sich Schwester Gertrud spitz.

      Sie machte keinen Hehl aus ihrer Antipathie, die sie dem Geschäftsmann entgegenbrachte.

      »Nach Singapur«, lautete die knappe Antwort.

      »Na dann, guten Flug«, erwiderte die altgediente Sprechstundenhilfe der Landarztpraxis trocken und wandte sich an die Kleine, die mit ihren großen dunklen Augen zu ihr hoch sah.

      »Mach’s gut«, sagte Philip Bach zu dem Kind, strich ihm ungelenk über den Kopf und verließ dann mit einem »Ade« den Praxisvorraum.

      Schwester Gertrud atmete tief durch und kam hinter der Rezeption hervor. Sie streckte Patricia die Hand entgegen, die diese vertrauensvoll ergriff.

      »Weißt du was?« Sie schenkte dem Mädchen ein liebevolles Lächeln. »Wir beide schauen mal nach, ob der Doktor Zeit für dich hat. Normalerweise geht es hier ja der Reihe nach, aber bei dir mache ich jetzt eine Ausnahme«, flüsterte sie ihrer kleinen Patientin zu. »Damit du nicht so lange warten musst. Außerdem bist du ja ein Notfall, wenn du heute Morgen wieder einen Anfall hattest.«

      »Omi wollte nicht, dass mein Vater mich zu Ihnen bringt, aber er hat sich einfach ihr gegenüber durchgesetzt«, vertraute Patricia ihr an. »Omi kennt meine Anfälle und weiß, was sie dann tun muss. Und ich weiß es auch«, fügte Patricia mit kindlicher Entschlossenheit hinzu, während die beiden Hand in Hand den langen Gang zum Sprechzimmer hinunter gingen. »Mein Vater sagte, dass wäre er mir schuldig. Wie hat er das gemeint?«

      Idiot, sagte sich Gertrud im Stillen. Er sollte besser mal seiner Tochter ein bisschen Zeit widmen, statt sie hier einfach abzuladen.

      »Erwachsene reden manchmal dummes Zeug«, erwiderte sie rasch, bevor sie an die Sprechzimmertür klopfte.

      *

      Während Dr. Matthias Brunner mit der Kassenärztlichen Vereinigung telefonierte, hatte er Philip Bach und dessen Tochter aus dem Fenster des Sprechzimmers ankommen sehen und auch, dass der Unternehmer nur eine Minute später in seinem weißen Porsche wieder gefahren war. Voller Unverständnis hatte er den Kopf geschüttelt. Armes Kind …

      Als das Mädchen jetzt vor ihm stand, ließ er sich von dem Mitgefühl, das er für die Kleine empfand, nichts anmerken.

      »Grüß dich, Patricia«, sagte er fröhlich und strich ihr über die dunklen Locken.

      Er ahnte, dass sie wieder einen neuen Anfall gehabt hatte. Seit ihrem zweiten Lebensjahr litt sie unter allergischem Asthma, dessen Ursache eine Pollenallergie war. Seit drei Jahren jedoch, seit dem Tod ihrer Mutter, hatten sich ihre Anfälle deutlich vermehrt, was psychisch bedingt war. Patricia litt sehr unter dem Verlust. Die geröteten Augen seiner kleinen Patientin verrieten ihm auch heute wieder, dass sie eine schlechte Nacht gehabt haben musste. Sie weinte oft im Schlaf und rief nach ihrer Mutter. Wie konnte er der Kleinen helfen außer mit Medikamenten und Atemtechnikübungen, die die Anfälle verkürzten und erleichterten? Wie gern hätte er ihre Lebenssituation verändert, genauso wie ihre Großmutter. Doch mehr als Liebe konnte Elisabeth Söntker ihrer Enkelin auch nicht geben. Und diese konnte die Liebe von Mutter und Vater nicht ersetzen.

      Noch während ihm diese Gedanken in Bruchteilen von Sekunden durch den Kopf gingen, wurden Schritte auf dem Gang laut. Dann erschien eine blonde sportlich wirkende Frau mit klaren Gesichtszügen in der immer noch offen stehenden Sprechzimmertür.

      »Entschuldigen Sie bitte, Herr Doktor, mein Auto sprang nicht an.« Sie trat auf Patricia zu und legte beschützend den Arm um deren schmale Schultern. »Ich wollte euch sofort hinterher fahren, nachdem Philip …« Sie verstummte, schenkte dem Kind ein zärtliches Lächeln und sah dann Matthias an. Dabei verdrehte sie sichtlich genervt die Augen. »Mein Schwiegersohn meinte, sich kümmern zu müssen«, fügte sie mit beredtem Blick hinzu.

      »Das habe ich mir schon gedacht«, erwiderte Schwester Gertrud. »Er würde sich besser mal anders kümmern.«

      »Du kennst ihn ja …« Elisabeth lächelte verzagt. Mehr sagte sie nicht.

      Die beiden Frauen kannten sich seit langem und verstanden sich.

      »Was machen wir jetzt mit dir?«, fragte Matthias. Dabei zwinkerte er seiner kleinen Patientin verschwörerisch zu.

      »Ich möchte mit Omi wieder nach Hause« antwortete Patricia. »Es geht mir doch wieder besser.«

      Der Landarzt nickte. »Dann machen wir das auch so. Was habt ihr zwei denn heute vor?«

      »Wir fahren nach Freiburg in den Zoo«, erzählte Elisabeth.

      »Und danach gehen wir Eis essen«, fügte Patricia jetzt schon wieder mit freudig glänzenden Augen hinzu.

      »Toll, ihr macht mich ja richtig neidisch«, sagte Matthias und lachte.

      Inzwischen standen die vier auf dem Gang, der Behandlungszimmer und Rezeption miteinander verband. Der Landarzt wollte sich gerade von seiner kleinen Patientin verabschieden, als Schwester Gertrud erstaunt ausrief: