Bevor Dr. Leon Laurin an einem trüben Aprilmorgen in die Prof.-Kayser-Klinik fuhr, suchte er zwei Patienten auf, die ihm ganz besonders am Herzen lagen, nämlich seine Zwillinge Konstantin und Kaja, die seit Tagen mit einer fieberhaften Mandelentzündung das Bett hüten mußten.
Ihm taten die beiden so leid, daß er gar nicht richtig zu trösten wußte.
»Mami kommt gleich zu euch, wenn sie Kyra versorgt hat«, versprach Leon, »und wir müssen wohl doch überlegen, ob wir euch von den Mandeln befreien lassen müssen.«
»Was meinst du damit?« fragte Konstantin.
»Das wird euch Mami erklären«, erwiderte Leon.
»Mami kann das wohl besser, weil sie eine Frau ist«, flüsterte Kaja. »Und Ärztin ist sie ja auch.«
Antonia Laurin trat ein und mußte nun doch lächeln. »Da hast du es wieder«, neckte sie ihren Mann.
Er blinzelte ihr zu.
»Ich muß jetzt gehen, Liebes«, sagte er rasch.
»Du kannst Papi ruhig zur Tür bringen, Mami«, meinte Konstantin großmütig.
Antonia wollte auch gern noch mit ihrem Mann ein paar Worte allein sprechen.
»Du bist also wirklich dafür, daß wir ihnen die Mandeln herausnehmen lassen«, sagte sie betrübt.
»Es wird nicht zu umgehen sein. Innerhalb sechs Wochen zweimal vereitert ist ein bißchen viel, mein Schatz.«
Antonia nickte. »Ich werde mich mit Dr. Winterfeld in Verbindung setzen«, sagte sie kleinlaut.
»Tu das. Er kann sie sich ja noch mal anschauen. Ich bin auch nicht für eine Operation, wenn es nicht unbedingt sein muß, Antonia.«
Er gab seiner Frau einen zärtlichen Kuß und eilte davon.
Antonia blieb noch ein paar Sekunden gedankenverloren in der Diele stehen. Die Seele des Hauses Karin kam aus der Küche.
»Es ist ja nicht so schlimm«, sagte sie tröstend. »Nach ein paar Tagen ist alles vorbei. Ich kann ja mit in die Klinik gehen, wenn es sein muß«, fügte sie mitfühlend hinzu.
Na, das wird wirklich Trubel geben, dachte Antonia, und damit sollte sie recht behalten. Sie sammelte Kraft für die Aussprache mit ihren Zwillingen, die sie erwartungsvoll anblickten, als sie das Kinderzimmer wieder betrat.
»Ja, die Mandeln werden heraus müssen«, begann sie, »aber wir werden vorher noch einen Spezialisten fragen.«
»Brauchen wir nicht«, erklärte Konstantin kategorisch. »Wir haben dich und Papi. Ihr seid auch Spezialisten.«
»Für Hals, Nasen und Ohren gibt es aber Fachärzte«, erklärte Antonia. »Die verstehen mehr als wir.«
»Ihr versteht genug«, warf Kaja ein. »Und wenn die Mandeln raus müssen, kann es Onkel Eckart machen.«
»Das kann er nicht«, sagte Antonia. »Ich kenne aber einen sehr netten Facharzt, der viel davon versteht. Er leitet auch eine schöne große Klinik, die sehr bekannt ist.«
Konstantin fuhr empor, und auch Kaja rappelte sich auf.
»In eine andere Klinik sollen wir?« fragte Konstantin empört. Seine rauhe Stimme überschlug sich fast.
»Das kommt nicht in Frage.«
»Das kommt gar nicht in Frage«, schloß Kaja sich an. »Die Prof.-Kayser-Klinik ist die schönste Klinik, und wenn wir in eine müssen, dann nur in unsere.«
»Nun seid mal ganz vernünftig«, sagte Antonia bittend.
»Da können wir aber nicht vernünftig sein, Mami, weil wir das nicht verstehen«, sagte Konstantin.
»Ich werde erstmal mit Dr. Winterfeld sprechen. Der wird euch anschauen, und dann sehen wir weiter«, lenkte Antonia ab.
»Ich will aber zu keinem Dr. Winterfeld«, räsonierte Konstantin.
»Omi kommt«, krächzte Kaja. »Wollen doch mal sehen, was sie sagt.«
Antonia eilte schnell hinaus. Sie wollte Teresa doch davon in Kenntnis setzen, daß sie nicht vor Mitgefühl überfließen, sondern den Zwillingen gut zureden solle. Aber ob das auf fruchtbaren Boden fallen würde, bezweifelte sie.
Glücklicherweise wurde Teresa Kayser jetzt noch von Kevin in Anspruch genommen, der tief gekränkt war, daß sie sich nur um die kranken Geschwister kümmern sollte.
»Du sollst mir auch Geschichten erzählen«, forderte Kevin gekränkt.
»Du darfst mit Opi spazierengehen«, sagte Teresa. »Er kommt gleich.«
Damit war Kevin versöhnt. Den Opi hatte er für sich. Das war auch etwas wert.
Antonia nahm Teresa beiseite. »Wir werden ihnen die Mandeln entfernen lassen müssen«, sagte sie leise.
Entsetzt schaute Teresa sie an. »Muß das denn sein?« fragte sie stockend.
»Mach dir nicht gleich Sorgen. Es ist doch nichts Besonderes«, sagte Antonia tröstend.
Teresa Kayser maß Antonia mit einem langen Blick. »Du mußt mal in den Spiegel schauen, Antonia. Sag nur nicht, daß du dich nicht auch sorgst.«
»Ich will mal mit Dr. Winterfeld sprechen«, lenkte Antonia rasch ab. »Wenn Papa Kevin holt, fahre ich schnell mal zu ihm rüber.«
Da Professor Joachim Kayser bald kam, stand diesem Vorhaben nichts mehr im Wege.
Dr. Winterfelds Klinik lag in einem nahegelegenen anderen Vorort von München. Auch Professor Kayser kannte ihn gut und meinte, daß man ihm die Zwillinge anvertrauen könnte, wenn dieser Eingriff eben nicht zu vermeiden war.
*
Dr. Winterfelds Klinik war nicht ganz so groß wie die Prof.-Kayser-Klinik. Sie war eingebettet in eine Waldlandschaft und sah eher aus wie ein großes Sanatorium. Sie wurde oft Wald-Klinik genannt, meistens jedoch Winterfeld-Klinik, nach dem leitenden Arzt. Obgleich sie anheimelnd wirkte, betrat Antonia sie mit gemischten Gefühlen.
Die Schwester am Empfang blickte auf, als Antonia vor das Fenster trat
»Frau Dr. Laurin!« rief sie überrascht aus, aber ihr Gesicht blieb ernst und ihre Augen wirkten trübe.
Antonia kannte Schwester Friedel noch sehr gut aus der Zeit, als sie, die ehemalige Ärztin, hier ihre Problem-Patienten besucht hatte, die von Dr. Winterfeld operiert worden waren.
»Könnte ich bitte den Chef sprechen?« fragte Antonia.
Schwester Friedel senkte den Blick. Sie bewegte ihre Lippen, aber kein Wort kam darüber. Statt dessen rollten große Tränen über ihre Wangen.
Da sah Antonia, wie sich die Tür zum Empfangsraum auftat und ein schwarzgekleidetes junges Mädchen eintrat.
Monika Winterfeld!
Antonia erkannte auch sie sofort, obgleich sie sie zum letzten Mal gesehen hatte, als Monika gerade ihr Abitur gemacht hatte.
Monikas violette Augen, die tief umschattet waren, blickten Antonia an, dann kam sie schnell hinaus in die Halle.
»Frau Laurin«, sagte sie leise. »Sie haben es gehört?«
»Was ist geschehen, Monika?« fragte Antonia verwirrt.
»Papa ist vor drei Tagen tödlich verunglück. In den Dolomiten. Im Urlaub.«
Antonia war blaß geworden. Ihr fehlten augenblicklich die Worte.
»Es ist so schrecklich«, sagte nun Schwester Friedel. Sie wischte die Tränen aus den Augen.
»Wie ist das geschehen?« fragte Antonia erschüttert.
»Gehen wir in Papas Zimmer«, bat Monika. »Sie sind doch sicher mit einem Anliegen gekommen, Frau Laurin?«
»Das hat jetzt Zeit«, sagte Antonia. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Es tut mir so entsetzlich leid, Monika. Es gibt keine Worte, die mein Mitgefühl ausdrücken könnten.«