Selbstbetrachtungen. Marc Aurel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marc Aurel
Издательство: Bookwire
Серия: Kleine philosophische Reihe
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783843800136
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begegnet, was ihm beschert wird. Selten und nicht ohne dringende Not und nur in gemeinnütziger Absicht denkt er daran, was wohl ein anderer sage oder tue oder meine; denn nur was in den Kreis seiner Pflichten gehört, ist Ziel seiner Tätigkeit, und was im Gewebe des Ganzen das Schicksal ihm gesponnen hat, Gegenstand seines anhaltenden Nachdenkens. Jenen füllt er mit löblichem Eifer aus, dieses nimmt er in gutem Glauben an. Ist ja doch das jedem beschiedene Schicksal ihm zuträglich, weil es sich für ihn zuträgt. Auch dessen ist er stets eingedenk, dass alle vernünftigen Wesen miteinander in Verwandtschaft stehen und dass es der Natur des Menschen angemessen sei, alle Menschen zu lieben, man dagegen nicht nach dem Beifall aller, sondern nur derjenigen trachten solle, welche naturgemäß leben. Wie aber die, welche nicht so leben, in und außer dem Hause, bei Tag und bei Nacht, sich benehmen und mit was für Leuten sie sich gemein machen, dessen ist er immer eingedenk. Auf das Lob solcher Menschen, welche nicht einmal sich selbst genügen, legt er nicht den geringsten Wert.

      Tue nichts mit Widerwillen, nichts ohne Rücksicht aufs Gemeinwohl, nichts ohne Prüfung, nichts um Hin und Her der Leidenschaft. Schmücke deine Gedanken nicht mit schönen Redensarten; sei nicht geschwätzig, noch auch vielgeschäftig. Immer sei der Gott in dir Führer eines gediegenen, gereiften, staatsklugen Mannes, eines Herrschers, der sich selbst eine Stellung angewiesen hat, in welcher er, ohne eines Eidschwures oder eines Menschenzeugnisses zu bedürfen, fertig des Rufes wartet, der ihn aus diesem Leben abruft. Eines aber lass dir gesagt sein: Sei heiter und nicht bedürftig der Dienste, die von außen kommen, auch nicht bedürftig des Friedens, welchen andere gewähren. Aufrecht musst du stehen, ohne aufrecht gehalten zu werden.

      Kannst du im menschlichen Leben etwas Besseres finden als Gerechtigkeit, Einsicht, Selbstbeherrschung, Tapferkeit, mit einem Wort, als eine Gemütsverfassung, wo du in dem, was Gegenstand eines vernunftmäßigen Handelns ist, mit dir selbst, und in allem, was dir ohne dein Zutun beschieden wird, mit dem Schicksal zufrieden bist; kannst du, sage ich, etwas entdecken, das besser ist als dies, so wende dich dem mit voller Seele zu, und freue dich des aufgefundenen Besten. Erscheint dir aber nichts besser als der in dir thronende Genius, welcher die eigenen Triebe sich unterwürfig gemacht und, indem er seine Vorstellungen genau prüft, von den Vorspiegelungen der Sinne, wie Sokrates zu sagen pflegte, sich losgerissen und den Göttern untergeordnet hat und für Menschenwohl Sorge trägt – findest du, gegen dies gehalten, alles andere gering und unbedeutend, so gib keinem andern Ding Raum! Denn hast du dich einmal für ein solches Ding entschieden und ihm dich zugeneigt, so wirst du jenem Gute, das so recht dir zugehört, nicht mehr ungeteilt den Vorrang einräumen können. Denn einem Gute, welches auf das vernünftige und staatsbürgerliche Leben Bezug hat, irgendetwas Fremdartiges, wie den Beifall der Menge oder Ehrenstellen, Reichtum oder Sinnengenüsse, an die Seite setzen, wäre Unrecht; würde ja doch dies alles, wenn es dir anfangs auch nur wenig zu taugen schiene, dich mit einem Mal ganz in Beschlag nehmen und mit sich fortreißen. Du vielmehr, sage ich, wähle mit offenem und freiem Sinn das Bessere und halte an demselben fest. Das Bessere aber ist auch das Nützliche, und wenn es dir als vernünftigem Wesen nützt, so bewahre es, wenn aber nur als tierischem, so erkläre dich dagegen; nur erhalte dein Urteil frei von Vorurteilen, um mit Sicherheit eine Prüfung anstellen zu können.

      Erachte nie etwas als vorteilhaft für dich, was dich je einmal nötigen könnte, dein Wort zu brechen, die Scham hintan zu setzen, einen Menschen zu hassen, gegen ihn Verdacht zu hegen, ihn zu verwünschen, dich vor ihm zu verstellen, nach etwas lüstern zu werden, wobei es der Wände und Vorhänge bedürfte. Denn, wer die Vernunft und seinen Genius und den seiner Herrlichkeit geweihten Dienst allem vorzieht, der wird in keine Tragödie verwickelt werden; er wird nicht stöhnen, er wird sich weder nach Einsamkeit, noch auch nach großer Gesellschaft sehnen; er wird im erhabensten Sinne des Wortes leben, ohne das Leben zu fliehen oder ihm nachzujagen. Ob er aber seine Seele auf einen längeren oder kürzeren Zeitraum im Körper eingeschlossen haben soll, das kümmert ihn wenig. Denn, wenn er sich auch im Augenblick vom Leben trennen sollte, er scheidet so fertig aus demselben, als sollte er irgendein anderes Geschäft betreiben, das sich mit Anstand und Würde verrichten lässt. Davor nur hütet er sich sein ganzes Leben hindurch, dass sein Sinn sich einer Wandelbarkeit überlasse, die einem Menschen nicht ansteht, welcher zu einem vernünftigen und staatsbürgerlichen Leben berufen ist.

      Im Gemüt eines Menschen, der sich selbst der Zucht und Läuterung unterzogen hat, findet man keine Wunden oder Beflecktes, keine verborgenen Schäden. Sein Leben ist nicht unvollendet, wenn das Schicksal ihn ereilt, wie man etwa von einem Schauspieler sagen könnte, er sei von der Bühne abgetreten, ohne seine Rolle ausgespielt zu haben. Zudem ist an ihm nichts Sklavisches noch Geziertes, kein Streben, sich aufzudrängen und ebensowenig, sich abzuschließen, kein Bemühen, der Rechenschaft oder dem Licht der Öffentlichkeit sich zu entziehen.

      Pflege deine Urteilskraft! Denn ganz von ihr hängt es ab, zu verhüten, dass sich in dir eine Ansicht festsetze, welche mit der Natur und mit der Einrichtung eines vernünftigen Wesens im Widerspruche steht. Diese aber verlangt von uns Zurückhaltung von vorschnellem Urteil, anhängliche Liebe zu den Menschen und Folgsamkeit gegen die Götter.

      Alles Übrige lege denn beiseite, halte nur an dem Wenigen fest und bedenke überdies, dass jeder bloß die gegenwärtige Zeit – einen Augenblick – lebt, die übrigen Zeitabschnitte dagegen für ihn entweder schon durchlebt sind oder noch im Dunkeln liegen. Unbedeutend ist also, was jeder lebt, unbedeutend der Erdenwinkel, wo er lebt, unbedeutend auch der bleibende Nachruhm. Denn er zieht sich durch eine Reihe gar schnell dahinsterbender Menschenkinder fort, welche nicht einmal sich selbst, geschweige denn einen längst Verstorbenen kennen.

      Den hier ausgesprochenen Lebensregeln möge noch eine beigefügt werden: Von jedem Gegenstand, welcher in den Kreis deiner Vorstellungen fällt, bilde dir einen genauen bestimmten Begriff, sodass du denselben nach seiner wirklichen Beschaffenheit unverhüllt, ganz und nach allen seinen Bestandteilen anschaulich erkennen und ihn selbst sowohl als auch die einzelnen Merkmale, aus denen er zusammengesetzt ist und in die er sich wieder zerlegen lässt, mit ihren eigentümlichen Namen zu bezeichnen vermögest. Denn nichts erzeugt in dem Grad hohen Sinn und edle Denkungsart, als die Geschicklichkeit, jeden Gegenstand, der uns im Leben begegnet, nach einer richtigen Methode zu untersuchen und ihn stets von der Seite ins Auge zu fassen, wo es uns zugleich klar wird, in welchem Zusammenhang er steht, welchen Nutzen er gewährt, welchen Wert er für das Ganze, welchen er für den einzelnen Menschen hat, als Bürger jenes höchsten Staates, zu dem sich die übrigen Staaten nur wie die einzelnen Häuser zur ganzen Ortschaft verhalten. Sprich bei dir selbst: Was ist denn das, was jetzt diese Vorstellung in mir erregt? Aus welchen Teilen ist es zusammengesetzt? Wie lange kann es seiner Natur nach bestehen? Welche Tugend muss ich ihm gegenüber geltend machen? Etwa Sanftmut? Mannhaftigkeit? Wahrheitsliebe? Hingebende Einfalt oder Selbstgenügsamkeit oder irgendeine andere Tugend? Daher muss man bei jedem einzelnen Ereignis also sprechen: Dies kommt von Gott, jenes von der durchs Schicksal gefügten Verkettung der Umstände oder auch von einem zufälligen Zusammenfluss von solchen, oder endlich, es rührt von einem Genossen unseres Stammes, Geschlechtes und Umganges her, der jedoch nicht weiß, was für ihn naturgemäß ist. Aber ich kenne den Zusammenhang. Daher behandle ich ihn, wie es das natürliche Gesetz der Gemeinschaft verlangt, wohlwollend und gerecht, nehme jedoch auch in gleichgültigen Dingen auf ihn Rücksicht nach dem wahren Wert derselben.

      Wenn du, der gesunden Vernunft folgend, dasjenige, was dir im Augenblick zu tun obliegt, mit Eifer, Kraft, Wohlwollen betreibst und, ohne auf eine Nebensache zu sehen, den Genius in dir rein zu erhalten suchst, als ob du ihn sogleich zurückgeben