Isolde Kurz
Aus meinem Jugendland
Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2021
EAN 4064066112127
Inhaltsverzeichnis
Tante Berta und die Schwabenstreiche.
Von Ihr. Nachklänge des „tollen“ Jahres. Das rote Album.
Ein Nothelfer. Russische Freunde.
Ein französischer Revolutionär. Jugendeseleien.
Der Brand und die Flamme. Hat der Mann ein Seelenleben?
Unzeitgemäßes und was es für Folgen hatte.
Vorwort.
Das vorliegende Buch bildet gewissermaßen eine Fortsetzung und Ergänzung der Lebensgeschichte meines Vaters und die Überleitung zu den „Florentinischen Erinnerungen“, in denen ich die Charakterbilder meiner verstorbenen Brüder einzeln gezeichnet habe. Da ich bei der Niederschrift der genannten Bücher nicht daran dachte, auch einmal die eigene Entwicklung zu erzählen, sind in beiden gelegentlich Dinge vorweggenommen, die hier mit größerer Ausführlichkeit behandelt sein wollten. Doch bin ich hierin nur dem Gesetz des Gedächtnisses gefolgt, das gleichfalls die Ereignisse nicht am langen Faden aufreiht, sondern das Zusammengehörige, auch wenn es zeitlich getrennt ist, aneinanderknüpft.
Natürlich kann das Bild, das ich von meiner damaligen Umwelt gebe, kein vollständiges sein. Es haben wertvolle Menschen meinen Jugendweg gekreuzt, deren hier keine oder nur flüchtige Erwähnung geschieht. Die Wahl der eingeführten Personen bestimmt sich einzig nach ihrem Einfluß auf meinen Werdegang. Und ein solcher Einfluß hängt ja weit weniger von der wirklichen Bedeutung einer Persönlichkeit ab als von dem Zeitpunkt, wo unsere Lebenswege sich schneiden.
Auch wundere man sich nicht, wenn man in meinen Erinnerungen Größtes und Kleinstes, Völkergeschicke und Jugendeseleien, große Männer und kleine Mädchen bunt beisammen findet. In meinem Jugendgarten wuchsen alle Gewächse Gottes, große und kleine, einheimische und fremde, wild durcheinander. Da gab es himmelstrebende Zedern, wundersame Orchideen, seltene Rosenarten, daneben lustige Bauernblumen und allerhand blühendes Unkraut. Ich pflücke mit vollen Händen, was ich noch erraffen kann. Freilich mußte ich manche lockende Blume nachträglich wieder aus dem Strauß werfen, weil mir persönliche Rücksichten Zurückhaltung auferlegen. Und was die großen Männer betrifft, so nehmen sie die Nähe der kleinen Mädchen nicht übel; ja sie hätten, als sie lebten, die Welt ohne diese Nähe um vieles weniger anziehend gefunden.
Isolde Kurz.
Lebensmorgen.
Es hat einen tiefen Reiz für das geistige Ich seinen eigenen Anfängen nachzuspüren. Wann und wie ist von diesem Bewußtsein, das später die ganze Welt des Seienden, des Gewesenen und gar noch des Künftigen umspannen möchte, der erste Funke aufgedämmert? Die tägliche Umgebung, in die wir hineingeboren wurden, läßt kaum einen bewußten Eindruck zurück, sie ist uns das Selbstverständliche gewesen, auch sind es nicht Personen, sondern Dinge, die uns zuerst die Vorstellung der Außenwelt als mit uns im Gegensatz befindlich geben.
Am Anfang meiner Erinnerungen steht ein Rad. Diese früheste Gedächtnisspur hat sich mir in meinem achtzehnten Lebensmonat eingegraben. Es war ein mit grünem Schlamm behangenes, verwittertes Mühlrad, das sich in einem eilenden Schwarzwaldbach drehte. Ich hielt es für den großen Garnhaspel unserer Josephine, woraus ich schließen muß, daß mir dieser schon eine ganz geläufige Vorstellung war, aber wann ich seiner bewußt wurde, weiß ich nicht. Das Rad war also nicht das erste, ich müßte vielleicht sagen: im Anfang war der Haspel; allein nun stutze ich wie der Doktor Faust bei der Bibelübersetzung: ich kann den Haspel so hoch unmöglich schätzen. Es müssen noch andere Erkenntnisse in Menge vor und mit dem Haspel gewesen sein, jedoch sind sie auf ewig unter die Schwelle meines Bewußtseins hinabgetaucht, und das Mühlrad steht als erster sicherer Meilenstein auf meiner Lebensstraße. Ich zappelte also vom Arm des Kindermädchens herunter, um den vermeintlichen Haspel aus dem Wasser zu langen — die Größenverhältnisse waren mir noch nicht aufgegangen — und ich setzte durch diese Absicht das Mädchen in berechtigtes Erstaunen, denn sie trug mich schleunig hinweg, wobei ich meine Mißbilligung durch Schreien und Treten aufs lebhafteste äußerte. Dieses Mädchen hieß Justine, sie war bei der gleichnamigen Heldin des „Weihnachtsfundes“, den mein Vater um jene Zeit schrieb, Pate gestanden, und der Auftritt spielte auf einer moosbewachsenen Steinbrücke in dem kleinen Schwarzwaldbad Liebenzell, wo meine Eltern den Sommer verbrachten.
Dieselbe Justine, die, beiläufig gesagt, erst vierzehn Jahre alt war, mir aber als eine sehr ehrwürdige Persönlichkeit erschien, trug mich