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Wieder so eine eingebildete Ziege«, brummelte ich, während ich die Tür hinter der einundvierzigsten Interessentin mit dem Fuß ins Schloss stieß, auf die ich mich ohnehin nur schwer konzentrieren konnte. Denn noch vor fünf Minuten hatte ich ein Telefongespräch mit einem anderen Bewerber geführt, der sich für das zu vermietende Zimmer interessiert zeigte. Noch immer hielt ich das schnurlose Telefon in der Hand und noch immer schüttelte ich fassungslos den Kopf.
Wies die Annonce nicht ausdrücklich darauf hin, dass ich das teilmöblierte Zimmer ausschließlich an eine Vertreterin des schönen Geschlechts vermieten würde?
Da hatte doch ein junger Mann tatsächlich die Nerven, mich davon überzeugen zu wollen, dass er der einzig wahre und richtige Mitbewohner für mich wäre. Zugegeben, mit seiner munteren, aufgeschlossenen und vor allem witzigen Art hatte er einen gewissen Charme versprüht und wusste sich auch zu artikulieren, doch deswegen würde er noch lange kein Mädchen ersetzen. Er war ein Bursche! Und das verstieß gegen meine Grundsätze.
Seufzend ließ ich mich auf die Couch fallen und warf das Telefon neben mich aufs Sitzpolster. Ich sank in die Lehne zurück, legte den Kopf in den Nacken, starrte an die Zimmerdecke und erwischte mich dabei, wie ich die Struktur der Raufasertapete inspizierte. Meiner Meinung nach nahm ein Gegenstand auch mal eine ganz merkwürdige Form an, sobald ich mich auf diesen intensiv konzentrierte. Eine abnorme sogar. Und so geschah es auch mit der Raufasertapete: Die ungleichmäßigen Beulen wirkten wie juckender, ansteckender Ausschlag und störten das Gesamtbild.
Seit die Annonce vor einer Woche in der Tageszeitung erschienen war, rannten mir die Mädels regelrecht die Bude ein. Allerdings wunderte mich das inzwischen gar nicht mehr, da mein neugieriger Nachbar (ich nannte ihn völlig zu Recht 007), der die Wohnung auf der ersten Etage direkt unter mir bewohnte, langatmig darüber aufgeklärt hatte, wieso die Nachfrage eines WG-Zimmers in einer Großstadt wie Berlin so riesig sei. Hätte ich im Vorhinein gewusst, dass sich die Suche nach einer Mitbewohnerin derart schwierig gestalten und ausschließlich Stress bewirken würde, hätte ich weitestgehend über das Bedürfnis einer solchen hinweggesehen.
Andererseits war die Annonce ja nicht auf meinen Mist gewachsen, sondern auf den meines fünf Jahre älteren vorherrschenden Bruders Emil, der es, nebenbei bemerkt, nicht mochte, Emil genannt zu werden, weil er den Namen für lächerlich hielt. Er pflegte immer zu sagen: »Da kann ich mir das Wort Niete auch gleich auf die Stirn tätowieren lassen.« So nannte jeder ihn seit Jahr und Tag Beck: Ein Kürzel aus unserem Familiennamen Halbeck.
Wenn jemand das allerdings nachvollziehen konnte, dann war ich das. Mit meinem Namen fuhr ich nämlich auch nicht viel besser. Da waren erste Reaktionen wie »Heidi? Wie die Heidi von der Alm?« oder »Wo hast du denn Alm-Öhi und Peter gelassen?« vorprogrammiert. Unsere Namen schrien ja förmlich nach Hohn und Spott, fand ich. Wir konnten bis heute nicht verstehen, was unsere Eltern bei der Namenswahl geritten hatte.
Wie auch immer, es mochte zwar seine Idee gewesen sein, Schuld hatte ich trotzdem selbst. Ich hatte ihm nämlich lang genug mit einer Arie über Einsamkeit und Armut in den Ohren gelegen. Offenbar hatte er es deshalb nicht für nötig gehalten, den Vorschlag vorab zu unterbreiten, geschweige mich, die ahnungslose kleine Schwester, zumindest kurz über ihr Glück zu unterrichten, sondern hatte die Annonce direkt über meinen Kopf hinweg aufgegeben und es schlussendlich als Überraschung bezeichnet. Natürlich hatte ich die »frohe« Botschaft entsprechend übellaunig aufgenommen, bis ich endlich kapiert hatte, dass mein werter Bruder ja nur gute Absichten verfolgt hatte. Und immerhin hatte er meinen Wunsch nach einem Wesen weiblicher Natur bedacht. Hätte ich jedoch geahnt, wie empfindlich ich auf die hochmodernen Mädchen von heute reagierte, hätte ich mir lieber ein Haustier zugelegt. Es hieß ja, Hunde hätten therapeutische Fähigkeiten.
Nicht, dass ich therapeutische Hilfe ernsthaft nötig hätte, aber in dieser sehr verrückten Welt konnte man weiß Gott nicht genug zur gesundheitlichen Vorsorge beitragen. Gewiss wirkte das sehr spießig: Ich rauchte nicht, trank keinen Alkohol, guckte immer fünfmal mehr nach rechts und links, bevor ich die Straße überquerte, umging strikt jede Situation, von der nur im Ansatz Gefahr ausgehen könnte (Fahrstuhl fahren, in tiefen, dunklen Seen schwimmen, Karussell fahren, mit dem Flugzeug fliegen, auf die Sonnenbank gehen und so weiter und so fort) und ernährte mich vegetarisch. Die Idee, mich gar vegan zu ernähren, hatte ich indessen so schnell verworfen, wie sie mir gekommen war, denn ich ertrug meinen morgendlichen Kaffee einfach nicht ohne Vollmilch, liebte weichgekochte Eier zum Frühstück und Käse überbackene Dinge wie Pizza und Aufläufe aller Art.
Der eine oder andere mochte glauben, es wäre für mich schon eine Herausforderung, morgens aus dem Bett zu steigen und ich hätte keinen Spaß am Leben. Doch tatsächlich war der Grund meiner Defizite nur einer: Ich hatte die letzten neun Jahre im Kloster zugebracht! Nein, Sie leiden nicht an Wahrnehmungsstörungen – Sie haben sehr wohl richtig gelesen: Ich war einmal eine Ordensschwester.
Mein einstiger Entschluss war für die meisten nur eine fixe Idee gewesen, nicht zuletzt, weil der Entschluss, ein Leben im Kloster zu führen, für mich bedeutet hatte, meine Familie, meine Freunde, meinen (verhassten) Putzjob und meine Heimat hinter mir zu lassen. Warum hatte ich geglaubt, ich hätte Gott nur auf diesem Wege nahe sein können? Verständlich, dass es niemandem in den Kopf gegangen war. Aber gegen aller Kritik war ich zunächst dem Ruf meines Herzens gefolgt.
So stand ich neun lange Jahre als Ordensschwester unter dem Pseudonym Jordana durch. Ehe ich mich jedoch mit dem ewigen Profess auf Lebenszeit an den Orden gebunden hätte, hatte ich ein weiteres Mal einen existenziellen Entschluss gefasst, und zwar den, zur Besinnung zu kommen. Ein restliches Leben in Armut, Keuschheit und Gehorsam, während dort draußen in der Welt der Bär tobte, hatte mir plötzlich nicht mehr zugesagt. Und, um ehrlich zu sein, klang der Name Jordana nicht gerade besser als Heidi.
Mittlerweile war ich achtundzwanzig, seit einem Jahr »auf freiem Fuß«, wie gesagt ein Hosenscheißer, arm und immer noch keusch. Hätte ich das gewusst, hätte ich natürlich auch im Kloster bleiben können.
Na gut, ich war nicht bettelarm! Beck hatte mir immerhin seine Eigentumswohnung vermacht – einfach so geschenkt, als er sich mit dem Gedanken getragen hatte, mit seinem Lebensgefährten Hugo in ein Einfamilienhaus an den Stadtrand zu ziehen. Vermutlich war er einzig überglücklich gewesen, dass ich wieder Verstand angenommen und den Weg der Rückkehr ins soziale Leben angetreten hatte. Und wenn ich bei ihm schon mal ein Zimmer hatte, wollte er mir dieses Heim nicht wieder nehmen.
Meines Erachtens war die Wohnung für eine einzige Person wirklich zu groß. Diese hatte zwei Schlafzimmer, einen großen Wohnraum, an dem die offene Küche anschloss, ein großes Wannenbad, das von meinem Schlafzimmer abging und mir damit jegliche Intimsphäre ermöglichte, und ein Gästebad mit Dusche über eine Fläche von gut hundertzehn Quadratmetern verteilt. Die Schlafzimmer und das Duschbad gingen vom großen Wohnraum ab. Es existierte kein Flur; die Wohnungstür führte direkt in den großen Wohnraum hinein.
Übrigens war ich die Letzte, die erfahren hatte, dass Beck schwul war; war ja im Kloster! Sich an diesen Gedanken zu gewöhnen, war ein harter Kampf, denn als ich ihn das letzte Mal, vor meinem Klostereinzug, gesehen hatte, war er der größte Playboy aller Zeiten und hatte alles besprungen, was Puls hatte. Ihm hatte völlig ferngelegen, sich jemals fest zu binden. Nicht zuletzt aus diesem Grund fand ich es sehr fragwürdig, dass jedermann so ohne Weiteres mit Becks Homosexualität zurande kam, jedoch nicht mit meinem ehemaligen Wunsch, Nonne zu werden. Klar, ich hatte recht untypische Sichtweisen für ein junges Mädchen, während Homosexualität zu keiner Zeit untypisch, vielmehr überraschend war, doch beides nahm aus Überzeugung seinen Lauf.
Zumindest war ihm seine Homosexualität zugute gekommen. Denn damals war er nicht nur dieser Playboy, sondern noch dazu ein Luftikus. Inzwischen war er total bieder geworden. Zuerst hatte ich gedacht, Beck wäre von Außerirdischen entführt und durch einen besseren Klon ersetzt worden, aber dann hatte er die Geschichte mit der Weberknecht-Spinne, mit der er mich schon Zeit meines Lebens aufzog, vor seinem Herzallerliebsten wieder herausgekramt. (In dieser prügelte ich mit einem meiner Flip-Flops auf eine Weise auf die besagte Spinne ein, als hätte ein mordlustiger Löwe vor mir gestanden.) So wusste ich, dass er lediglich erwachsen geworden war, im Großen und Ganzen. Männer hinkten ja bekanntlich immer eine Spur hinterher.