Tarabas
© Joseph Roth 1934
Umschlaggestaltung unter Verwendung von Bildmaterial von Katarzyna Chojnowska / Pixabay
© Lunata Berlin 2019
Inhalt
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Im August des Jahres neunzehnhundertvierzehn lebte in New York ein junger Mann namens Nikolaus Tarabas. Er war der Staatsangehörigkeit nach Russe. Er entstammte einer jener Nationen, die damals noch der große Zar beherrschte und die man heute als »westliche Randvölker« bezeichnet.
Tarabas war der Sohn einer begüterten Familie. Er hatte in Petersburg die Technische Hochschule besucht. Weniger aus echter Gesinnung als infolge der ziellosen Leidenschaft seines jungen Herzens schloß er sich im dritten Semester seiner Studien einer revolutionären Gruppe an, die sich einige Zeit später an einem Bombenattentat gegen den Gouverneur von Cherson beteiligte. Tarabas und seine Kameraden kamen vors Gericht. Einige von ihnen wurden verurteilt, andere freigesprochen. Zu diesen gehörte Tarabas. Sein Vater verwies ihn von Haus und Hof und versprach ihm Geld für den Fall, daß er sich entschlösse, nach Amerika auszuwandern. Der junge Tarabas verließ die Heimat, unbesonnen, wie er zwei Jahre vorher Revolutionär geworden war. Er folgte der Neugier, dem Ruf der Ferne, sorglos und kräftig und voller Zuversicht auf ein »neues Leben«.
Allein schon zwei Monate nach seiner Ankunft in der großen, steinernen Stadt erwachte das Heimweh in ihm. Obwohl die Welt noch vor ihm lag, schien es ihm manchmal, sie läge hinter ihm bereits. Zuweilen fühlte er sich wie ein alter Mann, der sich nach einem verlorenen Leben sehnt und dem keine Zeit mehr bleibt, ein neues anzufangen. Also ließ er sich denn gehen, wie man sagt, machte keinerlei Versuche, sich an die neue Umgebung anzupassen und nach einem Unterhalt zu suchen. Er sehnte sich nach dem zartblauen Dunst seiner väterlichen Felder, den gefrorenen Schollen im Winter, dem unaufhörlich schmetternden Gesang der Lerchen im Sommer, dem süßlichen Duft bratender Kartoffeln auf herbstlichen Äckern, dem quakenden Lied der Frösche in den Sümpfen und dem scharfen Gewisper der Grillen auf den Wiesen. Das Heimweh trug Nikolaus Tarabas im Herzen. Er haßte New York, die hohen Häuser, die breiten Straßen und überhaupt alles, was Stein war. Und New York war eine steinerne Stadt.
Ein paar Monate nach seiner Ankunft hatte er Katharina kennengelernt, ein Mädchen aus Nischnij Nowgorod. Sie war Kellnerin in einer Bar. Tarabas liebte sie wie seine verlorene Heimat. Er konnte mit ihr sprechen, er durfte sie lieben, schmecken und riechen. Sie erinnerte ihn an die väterlichen Felder, an den heimischen Himmel, an den süßen Duft bratender Kartoffeln auf den herbstlichen Äckern der Heimat. Zwar stammte Katharina nicht aus seiner Gegend. Aber er verstand ihre Sprache. Sie begriff seine Launen und fügte sich ihnen. Sie milderte und verstärkte zugleich sein Heimweh. Sie sang die Lieder, die er auch in seiner Heimat gelernt hatte, und sie kannte Menschen genau von der Art, wie auch er sie kannte.
Er war eifersüchtig, wild und zärtlich, bereit, zu prügeln und zu küssen. Stundenlang trieb er sich in der Nähe der Bar herum, in der Katharina bedienstet war. Er saß oft lange an einem der Tische, die zu ihrem Rayon gehörten, beobachtete sie, die Kellner und die Gäste und ging manchmal in die Küche, um auch noch den Koch zu beobachten. Allmählich begann man, sich in der Anwesenheit Nikolaus Tarabas' unbehaglich zu fühlen. Der Wirt drohte, Katharina zu entlassen. Tarabas drohte, den Wirt zu erschlagen. Katharina bat ihren Freund, nicht mehr in die Bar zu kommen. Dahin aber trieb ihn immer wieder die Eifersucht. Eines Abends beging er eine Gewalttat, die den Lauf seines Lebens verändern sollte. Vorher aber geschah folgendes:
An einem schwülen Spätsommertag geriet er auf einen der fliegenden Jahrmärkte, die in New York nicht selten sind. Er ging, ohne bestimmtes Ziel, von einem Zelt zum andern. Gegen wertloses Porzellan schleuderte er sinnlos hölzerne