Über das Buch
Sie könnten unterschiedlicher nicht sein, die drei Protagonisten dieses Romans, und doch sind sie schicksalhaft miteinander verbunden: Franz Eschenburg, der seine Lobbyistentätigkeit von der Staatsanwaltschaft als Bestechung angeklagt sieht, Jan Perkhuis, Vorstandsvorsitzender einer großen Privatbank, die in der Wirtschaftskrise in Gefahr gerät und Thomas Hellmann, der Alkoholiker, der sich aus eigener Kraft von seiner Sucht befreit und zur charismatischen Leitfigur einer Protestbewegung gegen Banken in der Krise wird.
Mit großer erzählerischer Kraft entwirft der Autor anhand dieser drei Personen und ihrer Familien ein lebendiges Bild unserer Zeit, vom Ende des ersten Weltkrieges bis heute.
Der Autor
Geboren 18.08.1946 aufgewachsen in Emlichheim, Grafschaft Bentheim, Niedersachsen. Gymnasium in Nordhorn, 1966 Abitur.
Studium der Rechtswissenschaft in Göttingen, 2. Juristische Staatsprüfung in Hamburg 1976. Von 1976 bis 2017 Rechtsanwalt, von 1979 an selbständig in Bremerhaven, wo er auch lebt. Er ist verheiratet und hat keine Kinder.
Anfänge schriftstellerischer Tätigkeit etwa 2004.
Bisher sind folgende Romane erschienen:
„Rudolf Mittelbach hätte geschossen“ (2012)
„David, König der Israeliten“ (2012)
„Der Lauf der Zeit“ (2014)
„Moses, der Wanderer“ (2016)
Impressum:
©Copyright 2017: Friedrich von Bonin
Epubli Verlag GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Gebhardt Binder (www.gebinder.de)
ISBN: 978-3-746705
Friedrich v. Bonin
Die Wahrheit ist immer anders
Roman
Ein Mensch ist immer das Opfer seiner Wahrheiten
(Albert Camus in: der Mythos des Sisyphos)
Erstes Buch: Eschenburg
I.
1.
Das Wartezimmer war klein und kalt. Ich saß darin und fror und dachte über den Winter nach, der in diesem Jahr viel zu früh kam. Es war erst Mitte November und schon lagen zehn Zentimeter Schnee in Königsfeld in den Hauptstraßen, in denen die Stadtverwaltung mit Salz nicht gespart hatte, grau, matschig und rutschig und in den Nebenstraßen und außerhalb der Stadt weiß, klar und sehr kalt. Zehn Grad unter null hatte ich gestern Nacht gemessen. Ich verstand nicht, warum man dieses Wartezimmer nicht mehr heizte, die Mitarbeiterinnen mussten doch den Wintereinbruch ebenfalls mitbekommen haben.
Schließlich fasste ich mir ein Herz und ging durch die schmale Tür hinaus zur Anmeldung, wo die junge hübsche Gehilfin des Anwaltes saß, die mich auch schon empfangen hatte.
„Können Sie bitte im Wartezimmer die Heizung höherstellen, es ist sehr kalt darin“, sagte ich und bemühte mich um einen höflichen bescheidenen Ton.
„Herr Dr. Dragon wird sowieso gleich zu Ihnen kommen, es dauert nur einen Moment, aber natürlich stelle ich trotzdem die Heizung höher ein“, sie lächelte mich freundlich an und dann hörte ich auch schon die Schritte des Anwaltes, der sich über den Flur näherte und auf mich zukam.
„Herr Eschenburg, kommen Sie bitte mit mir, guten Tag, wie geht es Ihnen?“ Nach Art der Anwälte schüttelte er mir die Hand und ging langsam vor mir her den ganzen langen Flur entlang bis in sein Arbeitszimmer, das ich schon kannte. Für ein Anwaltsbüro war es erstaunlich behaglich eingerichtet, mit einem riesigen Schreibtisch an den großen Fenstern, durch die jetzt aber, es war später Nachmittag, kaum Licht hereinkam, mit einer Sitzgruppe gegenüber, einem Eichentisch mit lederbezogenen Stühlen darum. Der Eindruck der Behaglichkeit wurde nur gestört durch Berge von Papieren, die scheinbar ungeordnet auf dem Schreibtisch lagen. Dr. Dragon wies mich an den Eichentisch, der ebenfalls mit dicken Akten übersät war, das waren vermutlich die Unterlagen, die meinen Fall betrafen. Und tatsächlich:
„Das sind die Ermittlungsakten in Ihrem Fall, dem Fall Eschenburg“, sagte er, mir meinen Platz zuweisend und sich setzend.
„Wie Sie sehen, haben die Ermittlungen einen großen Umfang angenommen, aber lassen Sie sich von der Masse nicht schrecken. Zum einen kommt es nicht auf die Dicke der Akten an, sondern darauf, was drinsteht, und zum anderen gibt es ja viele Beschuldigte, Sie sind nicht der einzige.“
„Aber doch wohl der Hauptbeschuldigte?“ fragte ich vorsichtig und Dragon nickte.
„Ja, der Staatsanwalt hat sich hauptsächlich auf Sie eingeschossen, der größte Teil der Untersuchungen beschäftigt sich mit Ihnen. Aber genau habe ich die Akten natürlich auch noch nicht durchgearbeitet, ich habe sie erst seit drei Tagen. Aber hier“, er griff in den obersten Ordner und gab mir ein Bündel Papiere, „hier ist die Anklageschrift, das ist das, was die Justiz bisher aus den Ermittlungen herausgefischt hat. Diese Anklageschrift sollten Sie sich zunächst einmal ansehen und wir reden dann in drei Tagen wieder miteinander, dann kennen Sie die Anklage und ich habe die Akten durchgearbeitet.“ Dr. Dragon lehnte sich zurück und vertiefte sich in einen Abschnitt der obersten Akte, die er aufgeschlagen hatte. Ich betrachtete ihn.
Das war nun also mein Anwalt in diesem Verfahren, ein etwas fülliger Mann in den Fünfzigern, also so alt wie ich, mit vollen grauen Haaren, die rechts gescheitelt waren und an beiden Seiten über die Ohren fielen. Das Gesicht war blass, mit einem leichten Doppelkinn, einer hohen breiten Stirn und dichten Augenbrauen, unter denen grünbraune, kühle und kluge Augen lagen, die jetzt auf die Akten sahen. Ich war am Anfang nicht gut mit ihm zurechtgekommen, er hatte extrem langsame Bewegungen und sprach ebenso langsam, sehr deutlich artikuliert, als wäre jeder Satz, der seine schmalen Lippen verließ, zu Ende formuliert und es gebe danach nichts mehr zu sagen. Mich reizte das geradezu zum Widerspruch, den er aber dadurch erstickte, dass er noch langsamer wurde. Wenn er seinen Satz zu Ende gesprochen hatte, hatte ich mindestens schon vier Antworten durchdacht und erwogen.
Aber dieser Anwalt war nun einmal als der beste Strafverteidiger in der Hauptstadt und sogar im ganzen Land bekannt und die Vorwürfe, die gegen mich erhoben wurden, waren so bedrohlich, dass ich weniger als den Besten nicht akzeptieren wollte.
Nun sah er auf.
„Wollen Sie die Anklage hier in meinem Büro lesen oder die Kopie, die ich Ihnen gegeben habe, mit nach Hause nehmen?“, fragte er und sah mich an. „Wenn Sie sie hier lesen, kann ich Ihnen vielleicht die eine oder andere Frage beantworten, die Sie haben.“
„Danke, Ihr Wartezimmer ist mir zu kalt“, versuchte ich zu scherzen, merkte dann aber, dass ich schon damit seinen Sinn für Humor weit überforderte und ergänzte: „Nein danke, wirklich nicht, ich werde schon nicht umkippen, wenn ich sie lese. Ich nehme sie mit nach Hause und melde mich dann wegen eines Termins. Haben wir es denn eilig?“
„Nein“, sagte er, „eilig haben wir es nicht, sehen Sie, das Gericht hat mir eine Frist von vier Wochen gesetzt, um Anträge zu stellen, eine Frist, die ich ohne weiteres auf acht Wochen verlängern lassen kann. Andererseits sollten wir die Dinge auch nicht auf die lange Bank schieben.“
Damit erhob er sich und gab mir die Hand. „Wir sehen uns dann in drei Tagen wieder“, sagte er zum Abschied und ich verließ, die Anklageschrift in der Tasche verborgen, sein Büro.
2.
Draußen war die Kälte immer noch beißend, nicht mehr zehn Grad unter null wie die Tage vorher, aber immer noch frostig, es taute nicht, obwohl der Wetterbericht Tauwetter für diesen Nachmittag angekündigt hatte. Vielleicht kam die Temperaturerhöhung erst morgen. Was sollte ich mit dem Rest des Nachmittags anfangen? In mein Büro zurückgehen wollte