Keine Angst, der will nur beißen. Carsten Kupka. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carsten Kupka
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745064124
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      Index

       Jemand isst ein Eis

       Ein Osterspaziergang

       Die stumpfe Axt

       Istma

       Scheiß Kerze

       Die verlorene Nacht

       Der Entzug

       Brief eines Toten

       Die Erinnerung

       Autor

       Impressum

      1970

      »Sieh mal, wie glücklich er guckt.«

      Dieser Satz stammt von meinem Vater. Ich verstehe nur Bahnhof. Viel zu viele neue Wörter. Schließlich bin ich erst acht Monate alt. Und ich bekomme gerade etwas Neues zu essen. Etwas ungewohnt Kaltes. Aber trotzdem gut. Wahrscheinlich gucke ich deshalb glücklich.

      1972

      »Ach, was machst du denn da wieder?«

      Das ist Mama. Ich weiß nicht, warum sie fragt. Das sieht sie doch. Was ich mache, ist die Tätigkeit des Eisessens. Sie nähert sich mir. Mit einem Taschentuch, auf dem ihr Seiber ist. Das muss doch nicht sein. Es ist schließlich eine Selbstverständlichkeit, sich das Gesicht mit Eis einzureiben, wenn man drei ist.

      1974

      »Iss dein Eis vernünftig.«

      Klasse, Mama, was soll das denn? Vernünftig Eis essen. Wie sieht so etwas aus? Mit Messer und Gabel? Oder muss ich dabei ernsthaft dreinblicken? Zuviel Tiefsinniges sollte sie nicht von mir erwarten. Wir Fünfjährige haben nichts Vernünftiges im Sinn, und so eine Aufforderung vergällt ein wenig den Eisgenuss. Der Geschmack des Eises spielt noch keine so große Rolle. Was weiß ich schon von der Vielfalt.

      1977

      Ich übernachte bei Oma. Das ist was Gemütliches und Oma ist immer so entspannt. Also, noch kenne ich das Wort »entspannt« überhaupt nicht. »Gelassen« auch nicht, bin ja erst acht. Also nochmal. Oma ist immer so groovy. Das Wort kenne ich. Wir sind schließlich umzingelt von Hippies in diesen schlimmen siebziger Jahren. Es ist total fürchterlich, wie die Hosen alle aussehen, mit dem Schlag. Und manche Menschen haben sich auch noch einen »Kiss«-Schriftzug drauf gestickt. Warum?

      Ich habe also bei Oma geschlafen und bin jetzt aufgewacht. Oma sagt, dass Papa gestern Abend noch spät da war. Er hat mir ein Eis mitgebracht. Aber ich wurde nicht wach. Und was ist mit dem Eis passiert? Das ist im Gefrierfach, sagt Oma. Aber ich kann das jetzt noch nicht essen. Es wäre zu kalt, sagt sie. Ja, sicher. Und vom Fernsehen bekommt man viereckige Augen. So ist das, wenn man noch so klein ist. Man muss den Blödsinn hinnehmen, der einem vorgebetet wird. Genau so wie das Beten selbst. Alles nur abgeguckte Gewohnheiten, aber ich drifte ab. Ich muss wirklich eine halbe Stunde warten, bis ich das Eis essen darf, weil mein achtjähriger Körper scheinbar sonst zusammenbrechen würde.

      1978

      Juhu, welch wonniges Glück. Ich habe Taschengeld bekommen. Und ich weiß, was ich damit mache. Ich setze es teilweise in Wassereis um. 10 Pfennig das Stück. Ich freue mich so. Was kann es Schöneres geben als eine Handvoll Eis in Plastikhülsen.

      Ich lasse mir ein Spiel einfallen, während ich das Eis esse. Als Erwachsener werde ich doch bestimmt auch Eis essen, und ich beschließe, mir vorzustellen, wie das wohl aussehen kann.

      Ich versuche, mir also mich vorzustellen. Als Mann. Mit Bart oder so. Und mit einer Frau. Wie die Frau in meinen Gedanken aussieht, ist egal. Irgendwie wird sie schon aussehen. Also, ich bin neun. Es ist mir wirklich egal.

      Aber dieser Fantasie-Erwachsene mit Frau will mir nicht vor das Auge kommen.

      Stattdessen sehe ich jemanden in dunkler Nacht durch eine Straße torkeln. Mit einem Eis am Stiel in der Hand. Ein Betrunkener, um die zwanzig. Na, hoffentlich bin ich das nicht später. Was da alles passieren kann. Nachts, draußen. Und woher hat er/ich um diese Uhrzeit ein Eis?

      Schmeckt Alkohol? frage ich Mami und Vati.

      Nein, antworten beide.

      1979

      Mein Leben ist wundervoll. Mami gibt mir wöchentlich mein Taschengeld, damit ich Haushalten lerne. Bitte, was? Ich bin, meinem zehnjährigen Alter angemessen, sehr unüberlegt in meinen Handlungen. Obwohl, so unüberlegt auch wieder nicht. Ich weiß, was ich will. Eis natürlich. Dieses Spiel habe ich noch nicht wiederholt. War ja doof. Wenn man sich vorstellen möchte, wie man als Familienmensch aussieht und dann eine betrunkene Gestalt sieht.

      Egal. Heute nochmal. Die Karten sind neu gemischt. Ich esse ein Kalter-Finger-Eis und lasse meine Gedanken in die eingebildete Zukunft sehen.

      Na, herrlich. Ich sehe mich wieder. Unheimlicherweise wieder nachts. Er sitzt an einer Bushaltestelle und ist bestimmt schon fast dreißig und er hat ein Hörncheneis in der Hand. in der anderen hält er ein Foto, auf das er, also ich, sieht. Na, ich weiß nicht. Die Frau darauf hat bunte Haare. So eine will ich nicht im Dunklen sehen. Die spuckt bestimmt auf die Straße und lacht gerne grundlos. Warum habe ich mir keine andere ausgesucht?

      Mami, sage ich zu Mami. Frauen mit bunten Haaren sehen komisch aus.

      Ja, sagt Mami.

      1980

      Das Wichtigste im Leben ist das Eis, das zu einem passt. Ich habe eins mit Lakritzstiel. Das ist mein Lieblingseis. Ich darf sowas haben. Ein Lieblingseis und eine Lieblingsfarbe. Gelb, weil mein Rad gelb ist. Ja, ich weiß, ist nicht einfallsreich, aber ich weiß das nicht besser, ich bin elf.

      Es ist wieder Zeit, mein Spiel zu machen.

      Ich sehe mich in so einer Disco. Komisch, so ein Blödsinn. So viele Leute und zu laute Musik. Was wollen wir hier? Und was tut er? Er quatscht mit einer Frau. Ach, die sieht gut aus. Wird das meine Ehefrau? Nee, wir gehen weiter und fassen einer Dame an den Popo. Schlägt sie ihn-mich-uns jetzt? Nein, sie küsst uns.

      Ach ja, die lasse ich mir auch gefallen. Keine bunten Haare. Wieso habe ich ein Eis in der Hand?

      Ah, ein kaltes Buffet mit Kühlschrank in der Disco. Zumindest wissen wir zu leben.

      Vati, sage ich zu Vati. Wenn ich groß bin, werde ich in einer Disco Eis essen.

      Quatsch, sagt Vati.

      1981

      Es