Tim Sodermanns
Leidenslust
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Inhaltsverzeichnis
LEIDENSLUST
Es mag sachlich wirken, fast kühl, dass ich das genaue Datum erinnere, an dem alles begann. Wie märchenhaft klingt schließlich ein „es war einmal“ oder gar das bekannte „in einem Land vor unserer Zeit“ als Einleitung. Jene Floskeln eben, welche uns unwillkürlich fortreißen in eine Welt der Elfen und Zwerge, der sprechenden Rentiere und laufenden Bäume.
„Auf dem Weg zur Belegschaftsfeier der Heimisch und Lenzer AG am 16. Dezember 2016“, so beginnt man eine Geschichte einfach nicht. Aber was dieser „man“ da eigentlich alles nicht darf und kann, das hat mich eh schon immer herzlich wenig interessiert. Grenzen und Gesetze sind dazu da, um weit möglichst gebeugt und notfalls umgangen zu werden. Zum eigenen Vorteil selbstverständlich, macht es sonst wohl kaum einen Sinn. Mit Gesetzgebung kenne ich als Firmenanwalt mich bestens aus, das können sie mir glauben.
Ich hatte den Kaffee im wahrsten und übertragenen Sinne des Wortes bereits auf, als mein dunkelroter 1968er Porsche 908 Coupé an jenem verschneiten Abend souverän die Auffahrt zum Firmengelände nahm, aber es gab kein Entkommen und ich wusste es.
„Soziales Engagement und Kompetenz sind ebenso entscheidend, wie Fachwissen und Juristische Brillanz“, hatte dieser Vorstands-Fatzke letzte Woche allen Ernstes während meines quartalsmäßigen Bewertungsgesprächs gesagt und mir - ohne dabei das viel zitierte Blatt vor den Mund zu nehmen – somit geradeheraus zu verstehen gegeben, dass eine weiße Weste am Verhandlungstisch und vor Gericht nicht ausreichen würde, die Firmenleiter noch weiter zu erklimmen.
Den vor mir auf dem Schreibtisch liegenden Tacker hätte ich diesem grinsenden Schwein überziehen, ihn an seinen Blumenkohlohren aus dem Büro schleifen und mit Fußtritten zum Haupttor hinaustreiben sollen, aber ich tat es nicht.
Eine hervorragende Selbstkontrolle ist in meinem Beruf unerlässlich, zu oft versucht der Gegner schließlich, in Verhandlungen persönliche Schwächen und Eitelkeiten als Waffen gegen einen zu verwenden. Wer sich da nicht zurücknehmen, sein Blut zu Eiswasser werden und zu einem gewissen Grade schauspielern kann, der ist bereits verloren. So sah ich denn von Handgreiflichkeiten ab, nickte nur freundlich zustimmend und blieb still.
Selbst dann noch, als mein Gegenüber mir abschließend noch süffisant grinsend riet, doch mal bei der betrieblichen Weihnachtsfeier vorbeizuschauen, denn da könne ich gleich mit meinem Engagement anfangen. Im passenden sozialen Rahmen sozusagen.
Ein Handshake, ein zwischen Tür und Angel geäußertes: „Freitag ab 19 Uhr, vergessen sie das nicht Möhler“, und schon stand ich wieder draußen auf dem langen Flur, die geschlossene Türe des Personalchefs unmittelbar vor den vor Wut geweiteten Augen.
Ich war fuchsteufelswild, verachtete ich solche Veranstaltungen freilich zutiefst. Sie und die einmal im Jahr hemmungslosen Geknechteten, die sich zu solchen Gelegenheiten gern über das gratis Mittelklasse-Buffet und den billigen Perlwein hermachten.
Schon in Schule und Universität hielt ich mich stets von Leuten fern, ahlte mich geradezu in der mir überlegen erscheinenden Isolation der Eliten. Mein Ziel hierbei stets vor Augen: den teuren Wagen, den Pool im Garten, das Topmodel an meiner Seite und das fette Konto in der Schweiz. Vieles davon hatte ich erreicht, manches nicht.
Das Schloss der Fahrertüre hakelte etwas, eine durchaus verbreitete Marotte alter Fahrzeuge in der kalten Jahreszeit, doch dann senkte sich der Nippel endlich doch. Die Verriegelung kam, mein Baby war jetzt sicher, selbst auf dem weitestgehend leeren Firmenparkplatz. Ganz im Gegensatz zu mir.
Ich stand genervt neben dem Porsche, atmete tief durch und setzte mich sodann widerwillig gen Betriebsfeier in Bewegung. Doch noch bevor ich den Schlüssel eingesteckt, die wenigen Schritte hinüber zum Hauptgebäude gemacht und den Coffee-to-go-Cup in einem der bereitstehenden raucherfreundlichen Standmülleimer entsorgt hatte, erfasste mich bereits das blanke Grauen.
Obwohl die Zeiger meiner Tissot Powermatic am Handgelenk erst gegen neun Uhr gingen, war die Party offenbar bereits im vollen Gange. Udo Jürgens „Griechischer Wein“ schallte über den verlassenen Hof. Geschmettert aus dutzenden untalentierten Sachbearbeiterkehlen, untermalt von aus Dorfdiskos bekannten 3-Farben-Lichtorgeln, welche im Rhythmus des Gejohles hinter den gefrorenen Scheiben der Kantine aufblitzten.
Einen Moment war ich nahe dran, einfach auf dem Absatz kehrt zu machen, dann aber gewann mein karriereorientiertes Ich gegen den inneren Schweinehund. Ich legte also auch den Rest der Strecke zurück, entledigte mich des Mülls und trat schließlich ein.
Im ebenso geschmacklos, wie wirkungslos geschmückten Raum, herrschte wildes Treiben. Den paar Girlanden, Ballons und Plastik Weihnachtsmännern an den Wänden gelang es auch nicht nur im Entferntesten, eine Weihnachtliche