Rudolf Mittelbach hätte geschossen. Friedrich von Bonin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich von Bonin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737541985
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      Epubli Verlag, Berlin

      Copyright © Friedrich von Bonin 2011

      ISBN 978-3-7375-4198-5

      Zu lang schon waltest über dem Haupte mir,

      Du in der dunklen Wolke, du Gott der Zeit!

      Zu wild, zu bang ist´s ringsum, und es

      Trümmert und wankt ja, wohin ich blicke.

      (Der Zeitgeist, Hölderlin)

      2010

      1.

      Die gegenwärtige Krise zeigt uns deutlich, wohin Gier, übersteigertes Gewinnstreben und Maßlosigkeit von uns normalen Menschen, aber vor allem von Bankiers, und dem akkumulierenden Kapital führen kann. Alles ist durch die Krise ins Wanken geraten. Man verzeihe mir diese rebellisch anmutenden Sätze, die mir in meiner Funktion nicht wohl anständen, aber das Ausmaß der derzeitigen Krise, die Politiker und Bankmanager dazu führt, eine Milliarde Euro gewissermaßen als kleinste kalkulatorische Einheit zu behandeln und mit dieser Betrachtungsweise einfache sterbliche Menschen wie mich anzustecken, hat mich durch ihre Größenordnung, die sozialen Gefahren für unser Gemeinwesen und die Kosten, die sie verursacht, aus meinen gewohnten Denkbahnen geworfen.

      Ich bin Staatsanwalt in Hamburg, Rudolf Mittelbach ist mein Name, und ich sitze über der Leichenakte Heinrich Görgen.

      Draußen tobt der erste Sturm dieses Herbstes mit einer ungewöhnlichen Heftigkeit, der Wetterbericht hat Sturmböen in Orkanstärke vorausgesagt, und die spärlichen Bäume auf dem Gorch Fock Wall, an dem meine Behörde residiert, biegen sich unter der Naturgewalt, ihre Blätter, die noch kaum gelb geworden sind, dem Sturm preisgebend. Immer wieder prasseln Regenschauer, ebenfalls vom Sturm getrieben, fast waagerecht gegen meine Fenster, es ist mit einem Schlage kalt geworden. Haben gestern die Menschen noch, nur mit Hemd und Hose bekleidet, bei zwanzig Grad vor den Kaffeehäusern gesessen, so herrschen jetzt allenfalls sieben Grad, die wenigen Menschen, die durch die Stadt hasten, sind dick gegen Regen und Sturm vermummt, Regenschirme sieht man nicht, sie würden in dem Sturm auch nur verbogen.

      Die Akte Heinrich Görgen ist eine Leichenakte, so werden die Akten genannt, die über einen Toten handeln, dessen Tod nicht durch natürliche Umstände herbeigeführt wurde, sondern in irgendeiner Weise den Verdacht erregt, er könne gewaltsam oder mindestens unnatürlich sein. Gier und gewaltsamer Tod, nicht umsonst verbinden meine Gedanken diese beiden Erscheinungen, zeigt doch die Habgier in ihrer übersteigerten Form möglicherweise das ungeschminkte Wesen des Mannes, sein Böses, seine Wildheit, seine Gewaltbereitschaft, die allerdings durch die Zivilisation gezähmt wurde und durch Gewinnsucht sublimiert wird. Sagte ich das Wesen des Mannes, das Böse im Mann? Ich muss mich da versprochen haben, ich meinte natürlich das Wesen des Menschen, es wird erfasst von der Begehrlichkeit, strebend nach immer mehr und immer Größerem und immer Neuerem, in zunehmendem Masse beteiligen sich auch Frauen an der Jagd nach dem Geld und bereichern sie mit Ideen, die sich in der Krise als ebenso gefährlich herausgestellt haben wie die ihrer männlichen Kollegen. Auch sie sind unentbehrlicher Teil in diesem Mechanismus geworden. Dennoch: Wildheit und Gewalt sind männliche Eigenschaften, die Frauen wohl auch haben können, aber dann eher ausnahmsweise, wie es Männer gibt, die diese Wildheit nicht haben, sie in fast weibischer Weise entbehren. Ich zum Beispiel, Staatsanwalt in Hamburg, Oberstaatsanwalt, bekenne mich offen dazu: Ich bin nicht gewalttätig, Zeit meines Lebens bin ich der körperlichen Gewalt und überhaupt Auseinandersetzungen mit Erfolg ausgewichen. Ich gehöre zu den glücklichen Menschen, Männern, die nie in einen Krieg verwickelt waren, in dem sich die bösesten Urtriebe der Männer und der Menschen so schrecklich entlarven, in dem sich die Zivilisation, auf die ich besonders stolz bin, als dünne Decke um den Urmenschen erweist, die sofort bricht, wenn es Gewalttaten gilt.

      Insoweit ist mit der Gier, die eine Form kultivierter Gewalttätigkeit ist, sogar gut leben, ist sie doch Ausdruck einer Zivilisation, die so weit als möglich friedlich, keinesfalls jedenfalls kriegerisch ist. Dieser Satz kann nicht unbedingt stehen bleiben, was nämlich, wenn die Habgier in einer Krise mündet, die soziale Verwerfungen zeitigt, Unruhen, die wiederum Gewalt produzieren und dann die Gewalttätigkeit des Menschen nackt und bloß legt. Was diese Krise noch hervorbringt, ist für uns Zeitgenossen am heutigen Tage nicht vorhersehbar, wir werden die Folgen jedenfalls alle zu tragen haben, der eine mehr, der andere weniger. Wenn es stimmt, was einer der bedeutenden zeitgenössischen Wirtschafts“wissenschaftler“ sagt, der die Habsucht verteidigt mit der Erwägung, sie sei in der Geschichte der Menschheit stets treibende Kraft für Kreativität und Fortschritt gewesen, dann wird dies nicht die letzte Krise dieser Art gewesen sein und sich eher noch verschärfen.

      Vor mir liegt die Leichenakte Heinrich Görgen, ich sollte die Akte nach Frankfurt zurückgeben, ich habe sie mir kommen lassen, um die Einzelheiten seines Todes für mich zu klären. Ich habe Heinrich Görgen gekannt, ja, zeitweise war er mir ein guter Freund. Schließlich taten sich aber unüberwindliche Gräben zwischen uns auf, seine Eltern waren arm, meine wohlhabend. Bis zuletzt habe ich, von meinen Eltern behütet erzogen, das Problem nicht erkannt, es auch vielleicht nicht sehen wollen. Nun gut, es gab vielleicht andere Gründe für unsere Entfremdung, aber die wären nicht unüberwindlich gewesen.

      2.

      Aufgewachsen bin ich am Rande des inneren Straßenringes, der das Zentrum meiner Heimatstadt Eimstadt umgibt, in einem dieser Bürgerhäuser, die in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut worden sind, prächtig, aber nicht zu prächtig, mit zwei Stockwerken, groß genug, damit meine Eltern, mein Vater ist Vorsitzender Richter am Landgericht meiner Heimatstadt gewesen, ihre drei Kinder, mich, den Ältesten, und meine zwei Schwestern darin großziehen konnten. An das Haus schloss sich ein kleiner Garten, gerade groß genug, damit wir darin tollen konnten, nicht zu groß, damit er von meiner Mutter noch gepflegt werden konnte. Die Villa lag noch zentral in dieser mittelalterlichen Stadt in der Nähe von Hamburg, die früher einmal Hansestadt gewesen war, jetzt aber diesen Titel nicht mehr führte. Unser Haus war geräumig, im Erdgeschoß befand sich hinter der Haustür und dem Windfang ein riesiges Wohnzimmer, das Platz bot für eine Sitzecke, wie meine Eltern sie nannten, einem niedrigen Tischchen mit drei bequemen Ledersesseln und einem ausladenden Sofa darum und, in der Nähe der bis auf den Boden reichenden Gartenfenster, den Esstisch mit zwölf Stühlen davor, aus Eiche der Tisch und die Stühle, deren Sitzfläche mit schwarzem Leder bezogen waren. Neben dem Wohnzimmer befand sich eine Küche, die groß genug war, um der Familie Alltags zu den Mahlzeiten an einem Tisch Platz zu bieten, im Übrigen mit Herd, Kühlschrank und Waschmaschine ausgestattet. Hier nahmen wir Kinder das Frühstück ein, die wir früh aufstehen und aus dem Haus zur Schule mussten, das Mittagessen ebenfalls getrennt, mein Vater kam an Sitzungstagen unregelmäßig nach Hause, das Abendbrot versammelte die ganze Familie pünktlich um ein halb acht in der Küche, sonntags im Wohnzimmer. Diese Mahlzeit war es auch, vor der mein Vater die Hände faltete, wartete, bis auch die Familie die Hände gefaltet und die Köpfe gesenkt hatte, dann ebenfalls den Kopf senkte und das Gebet sprach „Komm Herr Jesus, sei du unser Gast, und segne, was du uns aus Gnaden bescheret hast. Amen.“

      Erst dann war es erlaubt, die Mahlzeit zu beginnen, es gab abends Brot mit Aufstrich zu essen und Tee zu trinken, für meinen Vater sonntags einen weißen Wein.

      Mein Vater war ein ehrfurchtgebietender Mann, nicht über ein mittleres Maß groß, aber mit einem bedeutenden Kopf, mächtig, kantig, mit einer breiten und hohen Stirn unter schlohweißem Haar, ich kann mich nicht erinnern, ihn mit braunem Haar gesehen zu haben. Unter der Stirn und den buschigen, ebenfalls weißen Augenbrauen hatte er bemerkenswert klare blaugraue Augen, mit denen er über den Tisch sah und die einen trafen, wenn man etwas falsch gemacht hatte. Keiner von uns Kindern mochte es gerne wagen, diesen Blick auf sich zu ziehen. Eine schmale Nase und ebenso schmale Lippen bildeten einen bemerkenswerten Gegensatz zu der großen Stirn, das Gesicht wurde nach unten durch ein kräftiges Kinn abgeschlossen. Seine linke Wange verunzierte ein großes rotes Feuermal, das sich, geriet mein Vater ausnahmsweise einmal in Zorn, tiefer rötete und den furchterregenden Eindruck des Gesichtes verstärkte. Ich habe meinen Vater selten ohne Anzug, weißes Hemd und Krawatte gesehen. Meine Mutter wirkte sich dagegen bescheiden aus, schmal, mit einem gütigen Gesicht, blickte