Mein berlinerndes Herz. Mathilde Schrumpf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mathilde Schrumpf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750273122
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      Copyright: © 2020 Mathilde Schrumpf

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      Titelbild unter Verwendung eines Fotos von Mathilde Schrumpf

       Ich wünschte, du wärst etwas Eckiges (Karussell)

       Beruhigt

       Perücken

       Emotionale Verwerfungen

       Sagen wir: interniert

       Am Morgen danach

       Laserbrief

       Keine weißen Kerzen

       Wenn wir uns wiedersehen

       Danksagung

       Ach könnt´ ich doch

       Kaputt

       Talente

       Gestern habe ich meinen Chef erschossen

       Ich kann immer

       Jane Bond auf dem Arbeitsamt

       Durchbruch, wissenschaftlich

       Die Vierzig

       Redeschwall

       Scheidungskind

       Susanne S.

       Schwarzer Peter, miese Tricks

       Valentina Tereschkowa

       20 Jahre im Beruf

       Hilfe, ich liebe Julie Andrews

       Mein berlinerndes Herz

      Alles einsteigen bitte, zurückbleiben Rien ne va plus nichts geht mehr wer kopfüber aufsprang, muss so mit und sehen, wie er zurechtkommt halten Sie bitte die Fahrausweise bereit Ach mir wird übel in diesen Dingern ich weiß nicht warum ich mich wieder und wieder solchen Mutproben aussetze ein Wahnsinniger, ein Quälgeist ist darauf verfallen, dass es Kindern Spaß machen soll Karussell zu fahren Merry go round und merry Mary wird ganz blass und klammert sich an die Messingstange vom Vordersitz die ersten Runden lang versucht sie die Tiefe des Grauens zu ermessen, indem sie sich fallenlässt, fallenlässt in die Tiefe der Grauens. Letztendlich ist auch körperliches Unwohlsein, seelisches Entsetzen und die rasende Angst eines Kinderherzens ermessbar, erfahrbar wie ein physisch vorhandener Raum, so stellt sie sich das vor, um in der Unendlichkeit des Entsetzens nicht verloren zu sein, nicht allein zu sein lieber sich fallen lassen, bis der Raum zu Ende ist, ausgeschritten, durchmessen von ihrem fallenden Körper.

      Mit fünf praktiziert sie es, und 30 Jahre später erst wird sie Worte haben für das Empfinden, ausgesetzt zu sein einer höheren Macht, die sie umherschleudert und zerschmettern kann und das alles nicht aus bösem Willen tut, sondern als Sonntagsspaß für die ganze Familie. Musik ist an und alles singt und lacht und jauchzt vor Entsetzen. Wenn sie von den Ohren her wieder Meldungen bekommt von der Außenwelt, weiß sie, dass der Abgrund des Entsetzens durchschritten ist, einmal die Dimension der Tiefe ausgeschritten, was jetzt noch kommt, ist nur lang und breit, Länge und Breite.

      Es gibt noch: Ihre Hände, weiß und verkrampft an der Messingstange des Vordersitzes und das graue Empören eines Magens, der brüllt und sich zugleich den Mund zuhält, kein Mucks darf aus ihm dringen, und dann beginnt sie von Überanstrengung zu frieren, die Zähne klappern und der ganze Körper schlottert, und sie gibt es auf, das Zittern der Muskeln, der Gliedmaßen unterdrücken zu wollen, das schafft sie nicht. Der Rest ist eine reglose Starre, ein Aushalten, indem die Seele den Körper verlässt, weil sie das Leid nicht ertragen könnte, ohne Schaden zu nehmen. Die Seele, leicht wie ein Vogel, steigt auf und überlässt den Körper seiner Mühsal, und später wird sie nicht mehr wissen, wie das war und was das eigentlich war bis zu dem erlösenden Gedanken, der so erlösend nicht ist, denn es ist zu spät für eine Erlösung.

      „Es wird langsamer”, meldet eine Instanz an ihren Körper. Welcher Sinn, welche Zellen, welches Organ? Keine Ahnung, „Es wird langsamer”, ja ist denn das zu glauben, Bremskräfte werden spürbar. Empörend kurze Zeit vergeht und alles bleibt stehen wie zum Hohn, denn der Schwindel geht weiter, ihre Augen hüpfen wie irre immer in eine Richtung weg und sie zwingt sie, stehen zu bleiben und auf die grässlichen Menschen zu schauen, die mit fiesen Sonntagsgesichtern und brutalen Visagen, die nichts als groteske Karikaturen eines Elternlächelns sind, auf sie zukommen, und sie spürt ihre Beine nicht und setzt doch alles daran, nicht zu fallen. Nicht einknicken, keinen falschen Schritt, langsam die Holztreppen hinab, die Augen suchen: einen Papierkorb, Kübel, Tonne, in den der Magen brüllen könnte.

      Eine fiese erwachsene Bespaßungsmaschine hat ihren Kinderkörper nicht verstanden, hat ihre Kinderseele püriert, und das Missverstehen geht so tief, dass es keinen Zweck hätte, den Eltern ihr Leid zu zeigen und auf ein Erbarmen zu hoffen. Bitte, bitte, ich will nicht Karussell fahren, ich mag´s einfach nicht, weiß ich doch nicht, warum, ist mir egal, wenn´s hundert Millionen anderer Kinder mögen, und Brummkreisel mag ich auch nicht und Ventilatoren und Drehtüren, Walzer, Uhren und das Stadionrund und Waschmaschinen und die ganze Erdkugel und Eiskunstlaufpirouetten und ganz ganz ganz ganz viele andere Dinge mag ich auch nicht, und du wirst lachen, nicht mal Zucker nehme ich in den Tee, weil jemand auf die Idee kommen könnte, ich müsse ihn dann auch umrühren.

      Weißt du, ich mag eigentlich lieber das Eckige. Häufig ruht es. Es strahlt Stille und Unbeweglichkeit aus, schöne solide Unbeweglichkeit, darauf ist doch mal Verlass. Ich wünschte, du wärst etwas Eckiges.

      Sie kocht morgens um sieben Hafersuppe mit Soja-Milch. Dazu Tee für mich und Kaffee für sich selbst. Sie hat zwei dunkelblaue Fahrradtaschen, die Verlässlichkeit und langen Funktionszeitraum signalisieren. Nicht einmal, wenn sie das Fahrrad mitnimmt, fährt sie schwarz. Sie hat einen Fahrradhelm, ich weiß das, auch wenn ich ihn in den letzten Tagen selten in Gebrauch gesehen habe. Sie lädt zum Advents-Plätzchen-Backen