Die Brücke aus Glas. Zsóka Schwab. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Zsóka Schwab
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748589846
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hier im Postskriptum für einverstanden. Und meine erste Wahrheit ist die Korrektur einer offenbar missverständlichen Formulierung:

      Ich bin leider kein sehr offener Mensch.

      10.11.2007, 22:23 Uhr

      [email protected] an [email protected]

      Betreff: Pardon

      Lieber Marian,

      ich glaube, ich muss mich bei dir entschuldigen. In meiner Schwäche für Absurditäten und Gedankenspiele habe ich nicht daran gedacht, dass es hier um ein Thema gehen könnte, dass dir ernsthaft am Herzen liegt.

      Ehrlich gesagt war ich an dem Tag auch ein bisschen schlecht gelaunt, weil ich ein Testat geschrieben und es wahrscheinlich ziemlich versiebt habe. Aber das ist jetzt nebensächlich. Um dir zu zeigen, wie ernst es mir ist, werde ich nun endlich die Fragen beantworten, die du mir am Anfang gestellt hast:

      - Musikinstrument: Ja, ich spiele eines, aber nur ein wenig. Als ich acht Jahre alt war, hat mein Vater es sich in den Kopf gesetzt, seine Kinder auf musischem Gebiet zu fördern. Für ungefähr drei Jahre hatten wir also gemeinsam Unterricht in klassischer Gitarre. Allerdings spiele ich nicht besonders oft und habe das Meiste wohl wieder vergessen.

      - Medizin: Ich würde nicht sagen, dass ich sehr viel darüber weiß, aber ja, ein wenig kenne ich mich aus – und wenn ich an meine Grenzen stoße, kenne ich immer noch die richtigen Leute, um sie um Rat zu bitten. ;-) Solltest du also irgendwelche Fragen auf diesem Gebiet haben, nur raus damit.

      Viele Grüße, Zarah

      P.S.: „Die drei Fragezeichen und die flüsternden Mumie“ war das erste Buch, das ich als Kind alleine und von Anfang bis Ende gelesen habe.

      ~ 8 ~

      Unter normalen Umständen war Jana kein Mensch, der sich leicht von unerwarteten Ereignissen überrumpeln ließ.

      Den wenigen Freundschaften, die ihr während ihres Lebens widerfahren waren, war es nie gelungen, ihr bodenständiges Gemüt zu größeren emotionalen Auslenkungen zu bewegen. Selbst als Basti sie vor ihrem zweiten gemeinsamen Konzert zum ersten Mal küsste, hatte sie das nicht derart aus der Fassung bringen können, dass es zwei Minuten darauf ihr Spiel auch nur im Geringsten beeinträchtigt hätte.

      Jana besaß nämlich eine geheime Kontrollvorrichtung in ihrem Herzen: Eine Art Schalter, der es ihr ermöglichte, alles, was ihr Gleichgewicht gefährdete, von einer Sekunde auf die nächste auszublenden.

      Dabei handelte es sich nicht um Verdrängung im eigentlichen Sinne, denn Jana vergaß nichts, sie wusste zu jeder Zeit, welche ungeheuerlich schönen oder schlimmen Dinge ihr gerade widerfahren waren.

      Ausgeknipst war bloß eines: Das Gefühl, dass diese schönen oder schlimmen Dinge für den Lauf der Welt von irgendeiner Bedeutung waren.

      Janas Kontrollknopf war zuverlässig und funktionierte in 99% der Fälle einwandfrei.

      Die wenigen Gelegenheiten, bei denen er auf ganzer Linie versagt hatte, ließen sich an einer Hand abzählen:

      1. Der Moment, als ihre Eltern sie zwingen wollten, nach Kanada mitzufliegen.

      2. Die Zeit nach Opas Tod, als sie gezwungen gewesen war, Oma alleine zu lassen und in das Internat zu ziehen.

      3. Ihre Begegnung mit Zarah in der Universitätsbibliothek.

      Jana brütete gerade über einem Analysis-Lehrbuch in der Mitte des großen, von zahllosen Messingleselampen erleuchteten Lesesaals, als sich am Ende des Raumes ihr gegenüber eine Tür öffnete.

      Es war reiner Zufall, dass sie gerade in diese Richtung sah: Der Staub der alten Bücher hatte sich auf ihre Brille gelegt, und Jana hatte sie zum Putzen abnehmen müssen. Als sie die Gläser gegen das Licht hielt, um ihre Sauberkeit zu prüfen, geriet die betreffende Tür für eine Sekunde in ihr Blickfeld.

      Und in exakt diesem Moment betrat eine junge Frau in rotem Pullover und dunkler Bluejeans den Saal.

      Ihre volle, goldbraune Lockenpracht war zu einem Pferdeschwanz gebändigt, die schlanken Beine steckten fast bis zu den Knien in robusten, beigefarbenen Snowboots. Sie war sehr zierlich und ziemlich klein, wahrscheinlich um einiges kleiner als Jana. Dabei vermittelten ihr beschwingter Gang und der offene, neugierige Blick, den sie über die Besucher der Bibliothek schweifen ließ, keineswegs den Eindruck, als ob sie sich auch klein fühlte.

      Diese Erkenntnisse waren es allerdings nicht, die Jana beinahe von ihrem Stuhl hochfahren ließen.

      Das ist unmöglich, dachte sie mit trockenem Mund. Das kann nicht sein! Und doch sah sie es mit ihren eigenen Augen: Dort auf dem Gang, keine zehn Schritte von ihr entfernt, war Zarah.

      Sie war es, ohne jeden Zweifel. Sie, oder wenigstens das Mädchen in Bikini, von dem Zarah ihr weismachen wollte, dass sie es nicht war – eine Behauptung, die Jana ziemlich fadenscheinig schien.

      Selbst, wenn sie sie geglaubt hätte, wäre es ihr schwer gefallen, das Foto von Zarahs E-Mails zu trennen. Mit Ausnahme der letzten, die irgendwie aus dem Rahmen fiel, passte das Bild der schelmisch lächelnden jungen Frau einfach zu gut zu ihrem Schreibstil.

      Aber ob sie nun Zarah selbst vor sich sah oder bloß eine Fremde, die ihr Bruder fotografiert hatte: Beides war, wie Janas Verstand sie nun trotzig erinnerte, in gleichem Maße unmöglich.

      Von allen Orten dieser Welt konnte dieses Mädchen sich nicht ausgerechnet in derselben Stadt befinden wie sie. Sicherheitshalber putzte Jana ihre Brille noch einmal, sah dann aber ein, dass es nichts änderte.

      Schlagartig überkam sie das gleiche Gefühl wie an dem Abend, als sie Gabi_hotchickens Nachricht an Basti gelesen hatte: Irgendetwas an dieser Angelegenheit war oberfaul.

      Und noch mehr als an jenem Abend drängte es sie, herauszufinden, was es war. Auf welche Weise sollte sie das aber anstellen?

      Wie eine Geheimagentin verbarg sich Jana hinter ihrem „Analysis für das erste Semester“ und verfolgte über den Bücherrand hinweg den Weg der vermeintlichen Zarah mit ihren Blicken. Diese hatte selbst ein Buch dabei – ein derart großes und schweres Buch, dass sie es mit beiden Händen tragen musste. Jetzt setzte sie sich damit auf einen freien Platz etwa fünf Reihen vor Jana, die den Hals strecken musste, um sie weiter im Auge zu behalten.

      Dann geschah für eine Weile nichts.

      Hin und wieder hörte man leises Geflüster oder das Geräusch einer umgeblätterten Seite. Alle paar Minuten hüpfte der große Zeiger der runden Wanduhr über dem Ausgang ein Stück voran, wie ein altersschwacher Frosch. Als er die neun erreichte, hielt Jana es nicht mehr aus.

      Sie nahm all ihren Mut zusammen, stand auf und stampfte mit ihrem Bibliotheksausweis zwischen den feuchten Fingern auf „Zarahs“ Reihe zu.

      Natürlich hatte sie auch einen Plan – einen, der so gut war, wie ein Plan nur sein konnte, dessen Entwicklung ein Mädchen von Janas Intelligenz für eine halbe Stunde von ihren Mathematikstudien abgehalten hatte.

      Dennoch klopfte ihr Herz wie ein koffeintrunkener Specht, als sie an das Mädchen im roten Pulli herantrat.

      „Zarah“ saß auf ihre Ellenbogen gestützt und war derart in ihre Lektüre vertieft, dass sie Janas Anwesenheit nicht gleich bemerkte. So konnte Jana noch einen kurzen Blick auf die vor ihr aufgeschlagene Seite erhaschen: Sie zeigte ein körniges Schwarzweißfoto der Londoner Tower Bridge und daneben eine präzise, mit Zahlen und Linien versehene Skizze derselben.

      Architektur …, stellte sie interessiert fest. Ob sie das wohl studiert?

      Lange hatte Jana nicht Zeit, über diese Frage zu sinnieren, denn in diesem Moment drehte das Mädchen sich zu ihr um. Für ein paar Sekunden musterte sie Jana aus staunenden, karamellbraunen Augen. Dann flüsterte sie:

      „Kann ich dir helfen?“

      Jana, die vergeblich darauf gehofft hatte, dass die Ähnlichkeit sich aus der Nähe verflüchtigen würde, vergaß