Ein Pfeil ist nur frei, wenn er fliegt. Frans Diether. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Frans Diether
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742795755
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      Vorwort

      785 beugte sich der Sachsenherzog Widukind fränkischer Übermacht und nahm in der Pfalz zu Attigny die christliche Taufe an. Karl, König der Franken und später der Große genannt, höchstpersönlich war sein Taufpate. Er versprach den sächsischen Stämmen eine relative Freiheit im Gefüge des Frankenreichs. Er hielt sein Versprechen nicht, konnte es nicht halten, da unzählige Interessen kleiner und größerer Herrscher, mehr oder weniger uneigennützig handelnder Missionare, Priester und weiterer Verkündiger der christlichen Lehre und nicht zuletzt die sich etablierende sächsische Adelsschicht dagegen standen. Anhänger der alten Götter, sie waren oft auch Anhänger der alten Freiheit, wurden verfolgt, gedemütigt, getötet. Und doch lebte er weiter, der in Natur und Mensch verankerte Glaube, der sich auf Wodan, Saxnot, Freya, auf alle Götter der nordischen Lande berief. Und auch er lebte weiter, der Traum von Freiheit, von gleichberechtigten, allein der Mehrheitsentscheidung unterworfenen Menschen.

      Kaum waren die sächsischen Lande unterworfen, zogen Karls Truppen gegen die Friesen, das Volk, welches den letzten Landstrich bis zur Nordsee und die vorgelagerten Inseln bevölkernd, schon immer stolz auf seine Eigenständigkeit war und sich für lange Jahre keiner feudalen Herrschaft unterwarf, stets dagegen die friesische Freiheit, die von freien Bauern getragene und durch gewählte Rechtssprecher erhaltene Ordnung ohne Hochadel betonte, eine Freiheit, die ihnen von Karls Gnaden gewährt und von seinen Nachfolgern nicht angetastet wurde. Doch obgleich diese Lebensform tief in der Seele der von Sturm und Flut geprägten, fest in ihrer mitunter überschwemmten Erde verwurzelten Menschen begründet lag, spielten in den taktischen Schachzügen der Frankenherrscher ganz andere Gesichtspunkte eine Rolle. Die Friesen galten als wenig aufsässig. Ihre Edlen nahmen in weiten Teilen den neuen christlichen Glauben widerstandslos an. Ihre Wehrhaftigkeit, Ausdauer und ihr zäher Mut wurden nicht nur zur Verteidigung des Landes gegen die Kräfte der Natur, sondern regelmäßig auch gegen einfallende Wikingerkrieger benötigt. So entsprang die friesische Freiheit durchaus politischem Kalkül der eigentlich Herrschenden.

      Ein drittes Volk verlor sich nach Unterwerfung durch das karolingische Franken und Streitigkeiten mit seinen Nachbarn komplett im Nebel der Geschichte, das Volk der Awaren, dessen Einflussgebiet einst von der Ostsee bis zur Wolga reichte und dem man noch heute gedenken sollte, wenn man Steigbügel aus Metall verwendet, eine Erfindung, welche diesen einst stolzen Steppenreitern zugeschrieben wird. Dabei hätte alles so anders kommen können, gab es durchaus ernsthafte Bemühungen der Verbrüderung von Sachsen und Awaren. Gemeinsam wäre es ihnen vielleicht gelungen, die europäische Geschichte ganz anders zu schreiben.

      Weit im Norden lebte eben jenes Volk, gegen das Karl die Friesen stellte, ein streitbares Volk, dessen Taten legendär sind, dessen Andenken noch immer lebendig ist, dessen Seele noch immer in Nachkommen jener berühmten Seefahrer und Eroberer wohnt. Man nannte diese Menschen später Wikinger. Ihr Glaube unterschied sich wenig von dem der Sachsen und Friesen. Selbst mit awarischen Vorstellungen gab es Übereinstimmung. Doch wie die anderen Völker auch, so gerieten die Nordmenschen unter den Einfluss des Christentums. Karl war es nicht, der sie missionierte, es kam aus ihren eigenen Reihen. Und es blieb vieles in ihren Vorstellungen erhalten, was bereits ihren Vorfahren als unzweifelhaft galt.

      In diesem Kontext suchen zwei Menschenkinder, ein Sachsenjunge und ein Friesenmädel, nach Liebe und Freiheit. Sie werden herausgerissen aus ihrer kleinen Welt. Sie werden Teil der fränkischen Expansionsbestrebungen. Sie finden vieles, auch das, was sie suchen?

      1. Kapitel

      Warm strichen die Strahlen der Abendsonne über die kleine sächsische Siedlung, deren letztes Gehöft das Ufer der Eems, die die Alten noch Tamesis nannten, erreichte, weit bevor diese in das große Meer mündete, doch immer noch nah genug, die Gezeiten zu spüren. Rotgoldene Schimmer überzogen die im sanften Wind schaukelnden Blätter der knochigen alten Weiden. Wie Schiffchen schaukelten sie, wie die Schiffe der Sachsen, mit denen diese das große Meer befuhren, fremdes Land erreichten und eroberten. Lang war das her. Es lebte allein noch in den Erzählungen der Alten, vorgetragen am knisternden Feuer zur Zeit der Winterstürme, wenn die Feldarbeit ruhte. Versteckt lag er, der sächsische Weiler, die aus mächtigen Stämmen gemachten, jedem Unwetter trotzenden Hütten duckten sich zwischen Hecken und Sträucher. Er lag nicht versteckt genug, lag nicht so abseits, dass ihn nicht die Hirten des neuen Glaubens erreichten, dass ihn nicht die Ritter des neuen Herrschers fanden und in der Allianz von Kreuz und Schwert das Gedenken der alten Götter aus- und den Dienst am neuen Gott und am neuen König eintrieben. Und so klein der Ort auch war, beherbergte er doch eine Kapelle, in die ein weitgereister Mönch regelmäßig als Gast ein- und die Barbaren, wie er sie nannte, bekehrte. Beharrlich in seinen Anstrengungen und im sicheren Wissen um die Unterstützung der fränkischen Besatzer gelang es ihm, die heilige Taufe über jedes Mitglied der Siedlung auszubreiten, die verirrten Seelen in den Schoß von Mutter Kirche zu führen, die stolzen Körper im Frondienst für das Frankenreich zu beugen. Und schrie doch einmal eine Bäuerin im Schmerz der Wehen um Wodans Beistand, flehte doch einmal ein Bauer unter der Abgabenlast um Saxnots Hilfe, dann taten sie es stumm, tief in ihrem Innersten, allenfalls noch in kleiner Runde ängstlich zusammengedrängt im Rauch einer Hütte. Nein, sie waren nicht immer so. Einige ihrer Alten zogen noch mit Widukind, kosteten noch Erfolge im Kriege, kosteten jedoch viel häufiger die Schmach der Niederlage und erfuhren schließlich die endgültige Niederlage, dass Ende von Selbstbestimmung und Freiheit. So auch Odomar der Einäugige, der seinen Beinamen einem Frankenschwert verdankte und neben einem Auge den einzigen Sohn im Kampf verlor und neben der ewig trauernden Schwiegertochter das einzige Enkelkind zu versorgen hatte. Gisbert nannten sie den Kleinen, nannte Adalbert das erste Kind, welches in eine gänzlich zum Christentum bekehrte, gänzlich mit der heiligen Taufe versehene Gemeinschaft geboren wurde. Adalbert, das war ihr Lehrer in der Sache Jesu Christi, ihr Missionar, ihre höchste geistige Autorität. Und so wagte keiner, etwas gegen den so seltsamen, bisher nie gehörten Namen des Kindes einzuwenden, schon gar nicht dessen Mutter, die ohnehin nie etwas einzuwenden hatte, deren Gedanken und Gefühle mit dem geliebten Mann im Felde starben und erst recht nicht Odomar, dessen schlauer Witz sofort das Potenzial des ungewöhnlichen Wortes erkannte, dem der Bert so egal war, wie ihm Adalbert egal war, der sich am Gis erfreute. Gis bedeutete Pfeil in der sächsischen Sprache. Dies schien ihm ein sehr passender Name für den Erben der männlichen Linie seiner Familie.

      Die Jahreszeiten wechselten. Die Blätter der alten Weiden am Ufer der Eems schwangen gerade noch sanft im goldenen Licht der Sommersonne, da verrotteten sie auch schon unter dem Schnee der Winterstürme. Adalberts Besuche wurden seltener und die Krieger des Frankenkönigs ließen sich nicht blicken, trugen doch die sächsischen Bauern tapfer die aufgebürdete Last, leisteten sie stets die vorgeschriebenen Abgaben, kämpften sie so manches Mal mit eigenem Hunger, wenn die Ernte schmal, die Steuer hingegen nicht geringer ausfiel. Selten zwar, aber doch immer öfter, einmal im Jahr, einmal im Vierteljahr, einmal in jedem Mondzyklus wich das Leid im Gesicht von Odomars Schwiegertochter, nur für Augenblicke zwar, doch lang genug, diese Augenblicke zu Odomars glücklichsten zu machen. Und noch etwas trug zum Glück des Alten bei, sein Enkel Gis, der ihm wie ein Sohn war, der in allem so großes Geschick zeigte, dass er trotz seiner jungen Jahre allein die Pferde hüten, die Wildesten von ihnen reiten, die Störrischsten von ihnen bändigen konnte, nicht durch Zwang, allein durch Verständnis. Auch wenn es darum ging, mit Pfeil und Bogen das kleinste Ziel aus der größten Entfernung zu treffen, schien Gis den anderen Kindern, gar manchem Erwachsenen um vieles voraus. Allein wenn es darum ging, das Können für die Jagd zu gebrauchen, versagte der Junge. Es schien ihm unmöglich, ein Lebewesen zu töten. So blieb er trotz all seiner Gaben ein Außenseiter.

      "Das wird ihm schon vergehen", sagte Odomar dann stets und in der festen Überzeugung, dass sein Nachkomme, wenn es darauf ankäme, auch Leben beenden würde. Es kam nicht darauf an. Für die Jagd, für das Töten fanden sich genügend andere. Gis hatte mit den Pferden, auf dem Felde, beim Sammeln und Spalten des Holzes ausreichend zu tun. Und wenn am Feuer die Helden der Vergangenheit verehrt, ihre Kriegstaten gerühmt wurden, dann dachte er an die einzigen Worte, die er je aus Adalberts Mund verstand, die einzige Belehrung des frommen Mannes, die je den Weg in sein Herz fand. Du sollst nicht töten, hatte der Missionar gesagt. Dies bewahrte Gis im Innersten. Du sollst nicht töten heißt, es gibt keinen Krieg, es gibt keine traurigen Mütter, es gibt keine Kinder ohne Väter, es gibt keine Angst unter