Überschätzte Unterforderungen. Dirk Bathen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dirk Bathen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738026221
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      Dirk Bathen

      Überschätzte Unterforderungen

      Neun Geschichten und solche, die es werden wollten

      Dieses eBook wurde erstellt bei

       Verlagslogo

      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       Vorwort

       Basislage (I)

       Etwas fehlt

       Statusmeldung ohne Link

       Das wahre Leben des kleinen Mannes

       Andere Jungen, andere Drachen

       Dramatisiertes Datendelirium

       Plus eins in der Erfahrungssammlung

       Dear Catastrophe Waitress

       Basislage (II)

       Impressum

       Vorwort

       Liebe Freunde vortrefflicher Vorworte.

      Wieso heißt ein „Vorwort“ eigentlich „Vorwort“? Meist sind es doch mehrere Sätze. Oft sogar ellenlanges Gefasel. Es müsste doch mindestens „Vorsätze“ heißen? Aber das wiederum führt in die Irre. Schließlich ist ein Vorwort ja keine Absichtserklärung für besseres Verhalten oder gar eine grundlegende Persönlichkeitsveränderung.

      Wie auch immer: ich werde keine Antwort auf diese Frage geben. Stattdessen präsentiere ich ein grau-buntes Sammelsurium diverser Versatzstücke, die im Laufe der letzten Jahre aus dem Kopf geflossen und auf mentalreserven.de in gleicher oder ähnlicher Form erschienen sind: Kurze Geschichten und solche, die es mal werden wollten.

      Wer es wagt, hier einzutauchen, wühlt sich durch überlegte Unterstellungen, unterlassene Überraschungen und überschätzte Unterforderungen. Auf dem steinigen Weg entlang überstandener Untergänge und unterlaufener Übergänge lassen sich links und rechts diverse Größenwahnbeschleuniger und Kleinvernunftsverlangsamungen sammeln, die das Leben im Ungefähren so bereithält. Und wenn die Wirklichkeit mal streikt, ändert das noch lange nichts an den Tatsachen. In diesem Sinne: Gute Reise.

       Basislage (I)

      Ein Rauschen. Das ist das erste, was ich höre. Noch bevor ich die Augen aufmache. Das Rascheln der Blätter, die im Wind gegeneinander schlagen. Dann kommt der Schmerz. Er drückt mich zu Boden. Neben dem Blätterrauschen ein zweiter Ton, kaum vom ersten zu unterscheiden. Etwas gedämpfter. Fast wie am Meer. Ich spüre den warmen Sand unter mir, das Wasser, das meine Füße umspült. Für einen Moment fühle ich mich wohl. Ich spüre die Vibration der Äderchen in meinen Schläfen. Blut pocht, rauscht an meiner Ohrmuschel vorbei. Wenigstens lebe ich noch.

      Der warme Sand verschwindet, die Feuchtigkeit bleibt. Es riecht nach Erde, nach Moos und Morast. Und nach Urin. Über mir ziehen ein paar Haufenwolken mit schimmernden Kuppeln durch den Himmel, treiben als bizarre Gebilde in der Luft. Dazwischen das Grün der Blätter.

      Ein Tropfen rollt über meine Stirn und verkantet sich in den Augenlidern, dringt nach innen. Ich suche meine Hand, damit die Finger das Salz aus den Augen reiben können. Finde sie nicht. Spüre sie nicht. Suche erfolglos nach den anderen Gliedmaßen. Keine Regung. Da ist nur der Kopf. Aber der lässt sich nicht bewegen.

      Mit langsamen Drehungen der Pupillen suche ich die Umgebung ab. Das Salz brennt, trübt den Blick. Alles grau, mal dunkler, mal heller, mal dicker, mal dünner. Grau. Zwischen den Steinen schwarze Schatten, hin und wieder etwas Grün, das Braun der Baumstämme. Kleingetier macht das Stillleben lebendig. Langsam, ganz langsam spült das Blut den Ernst der Lage durch den Körper, begleitet von einer Welle der Unsicherheit, ob wirklich jedes Körperteil noch an seinem Platz ist. Meine Hose klebt nass an den Oberschenkeln. Zumindest glaube ich, dass ich das fühle.

      Durch einen Spalt zwischen den Felsbrocken sehe ich einen kleinen weißen Fleck auf mich zukommen. Mein Nacken tut weh. Ich richte die Pupillen wieder geradeaus, nach oben, auf die windig-weißen Geister: ein Drache ohne Flügel, ein Adler mit aufgerissenem Schnabel, ein Schildkrötenelefant. Ungreifbar und leise fliegen sie vorbei, verändern ihre Form. Vögel zwitschern. Blätter rascheln. Mein Blut rauscht. Der Himmel ist blau wie die Hoffnung. Ich höre Schritte, dumpf und knirschend. Ein Schatten legt sich über mein Gesicht.

      „Endlich, Mann.“

      Simons Haare hängen herunter, sein Gesicht ist ein dunkles Loch. In seiner Stimme liegen Hektik und Entsetzen. Sein T-Shirt ist gar nicht so weiß, wie es von weitem aussah, eher grau, verschwitzt und dreckig. Aber in dieser Umgebung blendet es trotzdem. Er kniet sich nieder, wischt sich die schwarzen Haare aus der Stirn, klemmt sie hinters Ohr. Wenn ich nur halb so schlimm aussehe wie es sein Gesichtsausdruck vermuten lässt, ist die Lage ziemlich beschissen.

      Seine Arme sind zerkratzt, ein paar blutige Striemen. „Gut, dass du wach bist, Alter“, sagt Simon. Mehr sagt er nicht. Er streicht mir mit der Hand über den Kopf, zittrig. Was ist passiert, will ich ihn fragen. Meine Lippen sind trocken, kleben aneinander. Ich versuche zu sprechen, aber es kommt nur heiße Luft.

      Simon schaut sich um, reibt sich mit beiden Händen durchs Gesicht, sieht mich an. Seine Augen sind rot, verheult. Ich spüre einen großen Druck auf meiner Brust. Den kannte ich bisher nur von innen. Der ist immer da, wenn Anja in meiner Nähe ist und ich kein Wort rausbekomme. Oder wenn ich vor versammelter Klasse wegen irgendeiner Belanglosigkeit runtergeputzt werde. Meistens von Frau Lange, Physik und Mathe. Naturwissenschaften sind nicht so meins. Aber dieser Druck ist neu, der kommt von außen, von etwas Schwerem. Ich versuche an mir herunter zu schauen, mein Blick bleibt an den Steinen hängen, die auf meiner Brust liegen, ineinander verkeilt.

      Simons Anblick macht mir Angst. Ich werde kurzatmiger. Hol Hilfe, will ich ihm sagen, nimm die Dinger weg, mach irgendwas. Ich kann nicht. In meinem Kopf schreie ich ihn an, aber ich liege nur da und kann mich nicht bewegen, nicht sprechen. Simon steht neben mir, rauft sich die Haare, reibt seine Hände wieder und wieder im Gesicht herum, als wäre danach alles viel klarer. Er wischt sich die Haare aus der Stirn und klemmt sie hinters Ohr. Er schaut nach links, nach rechts nach hinten, dann wieder zu mir. Er blickt sich um wie jemand, dem gerade sein kleines Kind weggelaufen ist. So hat die Frau neulich auch geguckt, auf dem Spielplatz, als wir vom Fußball nach Hause gegangen sind. Sie lief hektisch umher und hat ständig „Leon, Leon“ gebrüllt. Dieses glückliche Gesicht, als sie ihn friedlich spielend in einem kleinen Holzhäuschen fand. Dieses Gesicht, aus dem die Angst weicht und Platz macht für große Erleichterung, würde ich mir jetzt auch von Simon wünschen. Es kommt nicht. Sein Gesicht bleibt ein unruhiger Krater.

      Langsam wird mir kalt. Die Nässe an meinen Hüften kriecht nach oben und nach unten. Mach was, denke ich, hör auf zu jammern und dir wie blöde durchs Gesicht zu wischen. Mach endlich was.

      Ein strahlend weißer Pudel mit