Aysia
Schrei der Bälger
Das schwarze Loch
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Inhaltsverzeichnis
Deutschland, Nachkriegszeit.
Der Krieg ist vorbei, die Schlacht geschlagen, die Menschen hungern, Elend und Not wohin man schaut. Es gibt kaum zu essen, eher gar nichts. Der harte, kalte und nicht enden wollende Winter tut sein Übriges dazu. Kohlen und Holz sind Mangelware, wie Milch und Brot. Es treibt die Menschen zu Mord und Totschlag, Schwarzhandel, stehlen nur um des Überlebens willen. Magda 13 Jahre alt, schlank, eher dünn, langes blondes Haar, raubeinig wie eine Junge lebt mit den Eltern und drei weiteren kleinen Geschwistern in einem zerstörten Reihenhaus der „Ruhrpott Gesellschaft Schwarzes Gold“. Hier leben viele Nachkriegskinder, die trotz Armut das Lachen nicht verlernt haben. Magda ist anders als alle Kinder in ihrer Umgebung. Sie ist kein hübsches Kind. Ihr Mund ist schmal und kann nie lachen, zwei kleine schräg gestellte blass graue Augen gucken böse in die Welt. Ihre Seele ist verdorben von der derzeitigen harten und gnadenlosen Zeit. Wie auch andere vom Krieg verschonte Menschen hat sich ihre Familie notdürftig in einem Reihenhaus eingerichtet. Was man so einrichten nennen darf. Ein altes Bett, ein paar zerschlissene Matratzen, ein paar schmutzige Decken. Ein wenig Mobiliar, welches nicht von den Besatzungsmächten zertrümmert wurde, nennen sie ihr Eigen. Der Kohleofen in der Küche geklaut, sowie Schalen, Tassen, Teller und verrostetes Besteck. Die zerschlagenen Fenster sind mit Holzbrettern vernagelt, es zieht an allen Ecken und Kanten und die spärliche Wärme des Kohleofens reicht nicht aus, um die Küche warm zu halten. Jeder Tag beginnt mit dem gleichen Kampf. Alle haben Hunger und nichts zu essen im Haus. Das Neugeborene, ein Mädchen, schreit am Stück, es hört nimmer auf. Was für ein Jammer! Magda möchte es nehmen und ihm die Kehle zudrücken, dann hätte das Geschrei ein Ende. Wenn es wenigstens ein Junge wäre! Aber ein Mädchen, zu nichts nütze. Es würde auch nur Kinder in die Welt setzen. Gedanken, die sich fest in Magdas Hirn einnisten. Es ist kalt, die Decken reichen nicht für alle zum Wärmen. Seitdem der Vater vom Krieg heimgekehrt ist, gab es jedes Jahr Zuwachs. Magda versteht die Eltern nicht. Magda hasst die Geräusche, die die Eltern von sich geben, wenn sie ihr Liebesspiel ungehemmt vor den Kindern treiben. Dieses Stöhnen und Schmatzen, einfach ekelhaft. Nur eine zerschlissene Decke als Sichtschutz trennt das Bett der Eltern von den Kindern, die auf Matratzen nächtigen. Dinge, die Magda nicht versteht und die den Keim ungehemmten Hasses und einer Abneigung gegen alles um sie herum aufkommen lässt. Alle hungern und wieder kommt so ein Balg auf die Welt. Wenn das Neue des Nachts vor Hunger weint, hält sich Magda die Ohren zu. Es zieht sie förmlich zur Mutter hin. Sie möchte es packen und dann vernichten. Bälger schreien nur, taugen nichts, können keine Kohlen klauen und rauben ihr die wenige Zuneigung der Mutter, die sie geben kann. Magda mag die Geschwister nicht und nennt sie insgeheim, „die Bälger“. Nur der Respekt vor dem starken und kräftigen Vater verbietet ihr, ihre Gedanken in die Tat umzusetzen. Und so wandern ihre grässlichen Gedanken in eine Schublade, um irgendwann darauf zurück zu greifen. Es ist nicht der Hass allein, Neid wird in ihrer Seele geboren. Für Magda sind Babys, die Mädchen unnötiger Ballast in dieser so schweren Zeit. Die Mutter ist schwach, kann das Neugeborene nicht stillen und wieder muss Magda Kohlen klauen gehen, um sie dann bei den Bauern gegen Kuhmilch einzutauschen. Die Abneigung gegen das unschuldige junge Leben, was ihr eigen Fleisch und Blut ist, ihre Schwester, wächst jeden Tag, jede Stunde ein wenig mehr, blüht zu krankhaften Phantasien auf und die sollen Magda später zu bösen Taten leiten.
Kohlen und Holz gibt es auf dem Schwarzmarkt für viel Geld, was Magdas Eltern nicht besitzen. Vielen Menschen geht es in dieser schwierigen Zeit nicht anders. So hat sich aus der Not heraus eine Kinderbande gebildet. Regelmäßig wird von ihnen der Bahnhof belauert. Zusammen mit drei Jungens aus ihrer Straße sind sie an diesem Abend auf Raubzug. Kohlen liegen genug am Bahnhof, doch werden sie bewacht. Es ist nicht leicht, an die begehrenswerte Ware heran zukommen. Und dann noch die vielen anderen Leute, die das gleiche Ziel haben. Oft genug gibt es Prügel, die teilweise tödlich endet. Magda weiß, wie die Auseinandersetzungen ausarten. Sie fühlt noch jeden Hieb mit dem Knüppel. Doch Kälte und Hunger treibt die Bande an, heut mehr Glück zu haben und wenigsten ein paar Kohlen zu ergattern. Bis zum Bahnhof braucht es allein eine Stunde. Die Stadt liegt noch in Schutt und Asche. Verbrannte Bäume ragen wie mahnende Denkmäler in die raue winterliche Luft. Hier und da ist ein Gebäude von den Bomben verschont geblieben. Licht gibt es nicht. Der Wideraufbau der zerstörten Häuser beginnt schleppend. Steine werden abgeklopft und aufgestapelt, für ein neues Haus. Immer wieder werden dabei Leichen freigelegt. Leichengeruch zieht in Magdas Nase. Ihr ist zum heulen, sie gibt der Unzucht ihrer Eltern die Schuld für all das Leid. Magda weiß es nicht besser und der Gedanke, der Krieg könnte schuld sein, der Gedanke kommt ihr leider nicht. Menschen mit Handwagen oder ausrangierten Kinderwagen schleichen durch die zerbombten Gassen, auf der Suche nach Essbarem oder Verwendbarem für zu Haus. Das alles interessiert Magda nicht. Sie braucht Kohlen, soviel wie möglich. Dann will sie gleich weiter zum Bauern. Vielleicht hat er heut ein paar Eier und etwas Brot, vielleicht! Die Stadt war vor dem Krieg eine schöne reiche Stadt, reich geworden durch den Kohlebergbau. Damals wohnte Magda in einer schönen Villa mit vielen Zimmern und einen großen Kamin, der im Winter stets Wärme spendete. Damals hatte sie die Mutter für sich allein. Fühlte sich geborgen, kannte keinen Hunger und musste nie frieren. Doch was ist davon geblieben. Wohin das Auge reicht, ausgebombte Häuser. Manch Straßenzug gibt es nicht mehr. Ihre Villa wurde von einer Bombe völlig zerstört. Obwohl es reichlich geschneit hat, sieht Magdas Umwelt triste und grau aus. Doch Magda kann nicht trauern. Sie hat ein Herz aus Eis. Für sie zählt nur der eigene Überlebenskampf. Sie verabscheut kleine Kinder. Die fressen nur und sind ständig im Wege. Magda wird nie Kinder haben.
An diesem Abend ist ihr Beutezug von Erfolg gekrönt. Ein einfahrender Güterzug verliert auf seltsame Art und Weise Kohlen. Sie fallen vom Wagen schon weit vor dem Bahnhof. Die frierenden Menschen stürzen sich auf das begehrte „Gold“ und klauben auf, was sie in der Schnelle fassen können. Magda hat gelernt, sich schnell wie eine Katze zu bewegen. Blitzschnell ist ihr durchlöcherter Rucksack gefüllt. Geduckt und um sich schauend verlässt sie das Bahnhofsgelände. Es kam schon vor, dass man ihr den gefüllten Rucksack abnahm. Und weil sie ihr begehrtes Diebesgut verteidigte, setzte es massiv Dresche. Sie kam damals mit einem blauen Auge davon. Blitzschnell bewegt sie sich in Richtung Bauernhof. Der Weg ist lang, die Straßen vom Schnee verweht und dazu kommt die Dunkelheit. Doch Magda kennt die Strecke genau. Hunderttausend Mal ging sie ihn, um Kohlen gegen Essen einzutauschen. Der Magen knurrt, fast erfrieren ihr die Hände, die Füße schwer wie Blei, kommt sie endlich beim Bauern an. Ein kleines Licht zeigt ihr, dass der Bauer noch nicht schläft. Schnell schaut sie in alle Richtungen, bevor sie leise an die einzig heile Scheibe am Bauernhaus klopft. Alle anderen Fenster sind vernagelt. Hier fiel keine Bombe, weiß sie vom Bauern. Aber die Amerikaner benahmen sich eben nicht fein, als sie das Land besetzten.
Die Scheunentür knarrt und im Schein einer Öllampe erkennt sie den alten Bauern, der ihr zuwinkt. „Na Mädchen, hast mir Kohlen mitgebracht?“ Magda zeigt stolz auf den prall gefüllten Sack. „Komm rein, wärm dich auf. Dann kommen wir zum Geschäftlichen.“
In der Scheune riecht es nach Kuh und Stroh, einer Ziege und Hühnern, angenehm ist es. Neidvoll schaut Magda auf den Bauern. Der hat es gut, keine schreienden Bälger, immer satt zu essen