Alles frei erfunden!
Imprint
Nachbarschaft mit kleinen Fehlern. Kriminalroman
Elisa Scheer
Published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
Copyright: © 2020 R. John 85540 Haar
Cover: privat
ISBN 978-3-753134-85-7
1 Mittwoch
Das Haus war wirklich schön, stellte Amelie fest, als sie mit zwei Schlüsseln und dem Mietvertrag auf die Straße trat – diese satte Farbe der Fassade! Kaisergelb nannte man das, hatte der Vermieter erklärt. Auch der etwas behäbige Baustil gefiel ihr – das Haus wirkte solide und gemütlich zugleich mit den dicken Mauern, den Loggien, den gemauerten Müllhäuschen und dem wilden Wein an der Seite.
Kurz vor dem Ersten Weltkrieg, hatte der Vermieter gesagt, als sie nach dem Baujahr gefragt hatte. Sie wusste nicht recht, ob man das gut finden durfte – als studierte Germanistin hatte man sofort Bilder von unterdrückter Arbeiterklasse und konservativ-erstarrtem Bürgertum im Kopf, von expressionistischen jungen Dichtern, die sich von einem Krieg endlich ein Sprengen der Fesseln und Konventionen erhofft hatten. Sie seufzte kurz – wer von ihnen hatte auch nur das erste Kriegsjahr überlebt?
Das spielte aber jetzt keine Rolle! Das Haus war schön, die Wohnung hatte genau die richtige Größe, die Miete war bezahlbar und obendrein konnte man in diesen Zeiten ohnehin froh sein, eine Wohnung zu finden. Sie hätte schon als Schülerin die Hundertmark- und später Fünfzigeuroscheine von Weihnachten gut anlegen sollen, dann hätte sie jetzt vielleicht ein kleines Vermögen und könnte sich etwas kaufen… aber wollte sie das überhaupt? Sie wusste doch noch gar nicht, was sie langfristig einmal machen wollte! Eigentlich armselig für dreißig Jahre…
Vielleicht aber hatte man das mittlerweile so? Das sollte sie nachher einmal durchdenken…
Sie durchquerte die Hofeinfahrt und betrachtete sich die Hinterfassade: genauso gelb, genauso solide – und hier gab es Balkone, die wahrscheinlich viel ruhiger waren, aber der Blick auf Garagen und einen Haufen Fahrräder war eher uninteressant. Sie hatte einen Balkon zur Straße hin und konnte den Drogeriemarkt, den Bäcker, den Schreibwarenladen (oh, mit einem Paketsymbol! Sehr praktisch!) und die Ecke zum Wupperweg überblicken. Naja, da gab es ein, zwei Läden (unter anderem einen SB-Waschsalon) und dann lange Häuserreihen im Stil der frühen Fünfziger. Was hatte es wohl vor dem Krieg dort gegeben? Wiesen oder ältere Häuser, die im Krieg zerstört worden waren?
Okay, Hinterhof in Ordnung. Und wer wohnte hier sonst noch? In jedem Stockwerk gab es eine kleine Zweizimmerwohnung wie ihre im zweiten Stock und daneben eine Wohnung mit drei Zimmern. Fast schon großbürgerlich… aber vielleicht gab es hier ja auch Kinder?
Sie studierte die Klingelschilder, aber natürlich sagten ihr die Namen noch nichts. Im Erdgeschoss gab es links eine Reinigung mit dem schönen Namen „Wäschebutler“, rechts etwas, das „Silver Centre“ hieß. Worum es sich da handelte, war nicht ersichtlich, denn hinter den beiden Fenstern gab es diesen hässlichen Sichtschutz aus senkrechten Textilstreifen. Und hinter der Tür sah man eine Art hellgrauen Stoff. Passend zu „Silver“?
Wahrscheinlich eine Vermögensverwaltung oder sowas, „Silver“ klang doch wertvoll?
„Was machen Sie denn da?“
Amelie drehte sich um und stand vor einem alten Herrn, sogar mit Hut.
„Ich schaue mir nur an, wer hier wohnt, warum?“
„Vulgäre Neugierde!“, schnaubte der Alte.
„Ich wohne hier, also darf ich doch mal schauen, wer meine neuen Nachbarn sind?“
„Sie wohnen nicht hier, das wüsste ich! Lügen Sie nicht so unverschämt!“
„Doch, das tue ich, aber zugegebenermaßen erst seit heute. Ich habe die Wohnung gerade gemietet.“
„Unmöglich, es ist doch gar niemand ausgezogen?“
„Offenbar doch, zweiter Stock links?“
„Da wohnt Fräulein von Holnbeck!“
Amelie kicherte unwillkürlich. „Fräulein?“
„Wie nennen Sie denn eine unverheiratete Dame?“
„Frau! Es macht eine Frau doch nicht kleiner, wenn sie keinen Mann hat! Fräulein ist ein sehr veralteter Begriff. Seit praktisch fünfzig Jahren veraltet, übrigens.“
„Ach, woher wollen Sie das denn wissen?“
Das Gespräch erschien ihr allmählich etwas surreal.
„Ich bin Germanistin.“
„Eine Studentin!“, stöhnte der Alte auf. „Dann haben wir jetzt täglich solche Demos? Und das Haus riecht nach Hasch?“
Amelie seufzte. „Mir scheint, Herr - ?, Sie haben seit den Siebzigern keine Studenten mehr gesehen?“
„Greifenklau. Johann Greif von Greifenklau.“
„Toller Name“, fand Amelie. „Ist der echt?“
„Unverschämtheit!“ Der Alte schloss die Haustür auf und stapfte die Treppe hinauf. Amelie studierte weiter die Namensschilder: tatsächlich, Greifenklau! Wie aus einem alten Trivialroman… Immerhin war er nicht ihr direkter Nachbar, das war ein Paar, wenigstens standen da zwei Namen, Benisch und Mitterlehner. Okay, es konnte auch eine kleine Wohngemeinschaft sein. Darüber musste der alte Greifenklau sich nicht aufregen? Eine Kommune?
Der Vermieter hatte doch gesagt, er werde sich um ein neues Klingelschild kümmern, oder?
Wieso wohnte der alte Zausel denn nicht auf der Burg Greifenklau? Gab´s die überhaupt?
Ach, egal. Sie würde jetzt nach Hause fahren, in ihr altes Zuhause, und ihren Krempel einsammeln und ihn hierherschleppen. Morgen wollten Benni und Rieke ihr ja mit den großen Teilen helfen, Rieke hatte schließlich einen Transporter, da passten die paar Sachen schon hinein.
2 Mittwoch
Anja Benisch teilte ihre Aufmerksamkeit zwischen dem Topf, in dem sie Karottenbrei erwärmte, und dem Laufställchen im Wohnzimmer, in dem Luca rhythmisch zwei Kunststoff-Bauklötze gegeneinanderschlug.
Luca war ein Schatz; sie eilte hinüber und beugte sich über das Laufstallgitter. „Na, mein Süßer? Baust du schön?“
Er strahlte sie an. „Mama…!“
Sie strich ihm über die Wange, was er tatsächlich mit „Ei, ei“ kommentierte, und kehrte zum Karottenbrei zurück. Die Temperatur passte, wie sie rasch überprüfte; sie rührte noch einen kleinen Klecks Sahne für den Geschmack ein und füllte den Brei in einen vorgewärmten Napf.
Als sie Luca auf dem Schoß hatte, überkam sie wieder dieses Glücksgefühl, das sie jedesmal empfand, wenn sie seinen warmen kleinen Körper im Arm hatte.
Ein Kind zu haben… ein eigenes Kind: Was konnte es Schöneres geben? Luca drehte sich um und schaute zu ihr auf: „Mama…?“
„Ja, mein Liebling. Jetzt gibt es einen leckeren Brei!“
Er sperrte sofort sein Mäulchen auf, offenbar verstand er schon das Wort „Brei“, auch wenn er noch nicht allzu viel sprechen konnte; außer Mama, Papa, will! und Arm! hatte er noch nichts zu bieten, aber er war doch erst gerade einmal neun Monate alt. Immerhin stand er manchmal schon im Laufställchen, wenn er nicht gerade mit seinem Spielzeug beschäftigt war. War er nicht ein kluger kleiner Kerl?
Er verputzte auch den ganzen Brei, ohne ungebührlich viel in die Gegend zu prusten, ließ sich ohne Protest das Gesicht abwischen, freute sich über eine frische Windel und ließ sich dann zum Mittagsschlaf ins Bett legen.
Mutter sein war